Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 925

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Das ist meine Auffassung in bezug auf den Massenstreik und Sie können daraus ersehen, wie weit sie von den Vorstellungen des Herrn Staatsanwalts entfernt ist.

Besonders erschwerend soll für mich der Umstand sein, daß ich so häufig in meiner Rede auf die russische Revolution hingewiesen habe. Aber die russische Revolution ist nun einmal das erste große geschichtliche Experiment mit dem Kampfmittel des Massenstreiks, und jeder ernste soziale Forscher, und sei er auch ein bürgerlicher Gelehrter, der das Problem des Massenstreiks studieren und beurteilen will, muß sich unbedingt an die russische Revolution wenden und aus ihr seine Erkenntnis schöpfen.

Nun aber noch ein wichtiger Gesichtspunkt: Von welcher Beschaffenheit war das Auditorium, das ich zu Gewalttätigkeiten angereizt haben soll? Ich sprach nicht einmal in einer Volksversammlung, sondern auf einem sozialdemokratischen Parteitag; ich sprach also vor einer Versammlung von Männern, die die Elite der aufgeklärten Arbeiterklasse Deutschlands darstellen. Und nun meine ich, das ist eine wahrhaft kolossale Unterschätzung der politischen Reife und der Intelligenz der sozialdemokratischen Agitatoren, wenn man glaubt, sie wären so leicht durch eine erregte Rede zu Gewalttätigkeiten anzureizen. Es liegt darin überhaupt eine ungeheure Unterschätzung des aufklärenden und veredelnden geistigen Einflusses, den die 40 Jahre sozialdemokratischer Schulung auf die deutsche Arbeiterklasse geübt haben. Und ich sage offen, ich hätte genau dieselben Ausführungen nicht bloß auf dem Parteitag, sondern in einer beliebigen sozialdemokratischen Volksversammlung gemacht und machen können, ohne daß unsere Arbeiter entfernt an Gewalttätigkeiten gedacht hätten. Ja, hat denn das deutsche Proletariat nicht in den letzten Jahrzehnten zur Genüge bewiesen, wie sehr es politisch reif, wie sehr es seine Leidenschaften gegenüber allen Aufreizungen im Zügel zu halten vermag? Denn wahrhaftig nicht mit Worten, sondern mit Taten wird es genügend tagtäglich aufgereizt. Glauben Sie denn, daß eine Volksmasse, die nicht durch das Sozialistengesetz[1], durch die Umsturzvorlage[2], die Zuchthausvorlage[3], den Hungertarif[4], durch die jetzige Anti-Gewerkschaftsvorlage[5] zu Gewalttätigkeiten gegen die herrschenden Klassen aufzureizen ist, daß die sich durch ein paar Worte über die Revolution dazu hinreißen läßt? Ich wundere mich, daß der Staatsanwalt nicht, statt mich anzuklagen, die Urheber all jener Gesetze und Vorlagen in Anklagezustand versetzt, denn

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[1] Das mit 221 gegen 149 Stimmen im Deutschen Reichstag angenommene „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ trat am 21. Oktober 1878 mit seiner Verkündigung in Kraft.

[2] Am 6. Dezember 1894 hatte die Regierung im Reichstag den „Entwurf eines Gesetzes, betr. Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse“ eingebracht. Diese sogenannte Umsturzvorlage sollte die Unterdrückungspolitik gegen die Sozialdemokratie gesetzlich sanktionieren. Angesichts der Massenproteste, besonders des energischen Kampfes der Sozialdemokratie, wurde die Vorlage in zweiter Lesung am 11. Mai 1895 im Reichstag abgelehnt.

[3] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.

[4] Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen. – Am 5. Dezember 1901 hatte die sozialdemokratische Fraktion dem Deutschen Reichstag eine Petition gegen die geplante Zollerhöhung mit rd. 3,5 Mill. Unterschriften übergeben. Paul Singer hatte am 11. Dezember 1901 die ablehnende Haltung der deutschen Sozialdemokratie gegenüber der Vorlage des Bundesrates zur Erhöhung der Getreidezölle begründet und die mächtigsten Großagrarier als Urheber der Vorlage entlarvt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion kämpfte dann vom 16. Oktober bis 14. Dezember 1902 noch einmal mit allen parlamentarischen Mitteln gegen die Gesetzesvorlage. In den 39 Sitzungen der zweiten und dritten Lesung ergriffen 30 sozialdemokratische Abgeordnete 250 mal das Wort. Zollgesetz und Zolltarif wurden am 14. Dezember 1902 mit 202 gegen 100 Stimmen gebilligt und traten ab 1. März 1906 in Kraft.

[5] Mit der Anti-Gewerkschaftsvorlage ist der „Entwurf eines Gesetzes, betreffend gewerbliche Berufsvereine“ gemeint, den die Regierung am 12. November 1906 vorgelegt hatte, durch den die Berufsvereine die Rechtsfähigkeit erlangen konnten. Ziel des Gesetzes war, die Aktionsfähigkeit der Gewerkschaften zu beschränken. Durch Auflösung des Reichstags am 13. Dezember 1906 wurde die Vorlage aufgehoben.