Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 372

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Ein Memento an den Absolutismus

[1]

Das Attentat, das soeben den russischen Minister des Innern niedergestreckt hat,[2] wird sicher im ganzen Zarenreiche, nicht minder aber in Westeuropa, einen tiefen Eindruck machen. Daß der zaristische Minister sein schmähliches Ende reichlich verdient hat, unterliegt keinem Zweifel. Ein skrupelloser Schurke, reaktionär bis auf die Knochen, dabei borniert bis zum Stumpfsinn in der politischen Auffassung und nur weitherzig, wo es sich um die schamloseste Ausplünderung der öffentlichen Kassen zum persönlichen Vorteil handelte, war er der typische Vertreter der heutigen Lenker der Geschicke des Zarenreiches. Seine Gaunereien hatten besonders plastisch seiner Zeit die berühmte Affäre mit seiner Schwester, der Grundbesitzerin Dubassow, illustriert, der er aus Anlaß des Abkaufs des Propinationsrechtes (Recht des Verkaufs von Spiritualien) durch den Fiskus bei der Einführung des staatlichen Schnapsmonopols über 250000 Mark durch den Finanzminister Witte unter der Hand als Liebesgabe zusteuern ließ. Bei einer anderen Gelegenheit hatte er statt der zur Renovierung seiner amtlichen Wohnung assignierten 600000 M einfach ca. anderthalb Millionen Mark der Staatskasse entwendet, und obendrein, als die Gaunerei ruchbar wurde, einen seiner Subalternbeamten als den Dieb denunziert und ihn zum Gouverneur im Gouvernement Taurien degradiert.

Allerdings nicht diese Schurkereien waren es, die ihm vor allem den berechtigten Haß der revolutionären Elemente zugezogen haben, sondern seine reaktionären Attentate auf die Presse, auf allerlei Vereine, und seine Bestialitäten bei der „Beruhigung“ der studentischen und proletarischen Manifestationen. Die schon ohnehin in eiserne Klammern gezwängte russische Presse hatte in der letzten Zeit unausgesetzte Aderlasse zu erleiden. Sogar solche Boulevardblättchen und reaktionäre Zeitungen wie das Petersburger Blatt, die „Nowoje Wremja“ [Neue Zeit], das „Russkoje Slowo“ [Das Russische Wort], die „Rossija“ [Rußland], kriegten alle Augenblicke Verwarnungen und Zensurstrafen. Der hervorragenden oppositionellen Monatsrevue „Shisn“ (Leben) wurde das Lebenslicht ausgeblasen.

Allerlei harmlose Vereine mit rein kulturellen Zwecken wurden unbarmherzig geschlossen. Vor allem aber hat sich der Polizeiminister durch die Heldentaten seiner

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] Gemeint ist das Attentat des Studenten Stepan Balmaschkow auf den Innenminister Dmitri Sipjagin am 15. April 1902 in St. Petersburg. Siehe auch Rosa Luxemburg: Ein politisches Attentat. In: GW, Bd. 6, S. 361 ff.