Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 125

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Aus Frankreich

[1]

Der Fall Didon-Jamont[2] ist ein großer Schlag für das radikale Kabinett Brisson. Die zivile Gewalt kann nicht ärger beschimpft und geohrfeigt werden, wie es durch die Rede des dominikanischen Pfaffen Didon geschehen ist, und Brisson, der Chef der Zivilgewalt, muß dazu schweigen. Dies sind die fatalen Konsequenzen des ersten Fehltritts, den er begangen, als er in der Dreyfus-Affäre[3] dem brutalen und bornierten Cavaignac das Heft in die Hand gegeben hat. Nachdem er einmal dem Militarismus das führende Wort eingeräumt hat, muß er sich nun auch die reaktionären Orgien des Militarismus und Klerikalismus gefallen lassen. So sinkt der Radikalismus in Frankreich von Stufe zu Stufe in den Sumpf. „Schon unter dem Ministerium Bourgeois“, schreibt Jaurès, „hat die radikale Partei vor dem Senat, dem Repräsentanten der bürgerlichen Oligarchie, kapituliert, jetzt unter dem Ministerium Brisson kapituliert sie vor der militärischen Oligarchie. Bis dahin sind also die stolzen Verteidiger der Zivilgewalt gelangt, von Kompromiß zu Kompromiß, von Schwäche zu Schwäche stürzend. Dahin ist also am Ende die radikale Partei gekommen! Und dahin“ – fügt er warnend hinzu – „wird bald auch die sozialistische Partei hinab gleiten, falls sie sich, aus Furcht vor den Rochefort und den Drumont, von dem Gift des Nationalismus entmannen läßt. Man nehme sich in Acht: die ersten Hinabgleitungen sind unfühlbar, der Fall ist dann aber schwer.“ – Der „Siècle“ erklärt den General du Paty de Clam als den Mithelfer des Esterhazy in allen seinen Fälschungen. – In Bourdeaux hat sich in Verbindung mit der Dreyfus-Affäre ein Aufsehen erregender Fall ereignet. Bei dem Begräbnis des dortigen Rektors der Akademie, Couat, hielt der persönliche Freund des Verstorbenen, Professor Stapfer, eine tiefgefühlte Nachrede, die auf die zahlreichen Anwesenden einen mächtigen Eindruck ausübte; plötzlich machte er aber zum Schluß eine Wendung, in der er in sehr durchsichtiger Form zu verstehen gab, daß Rektor Couat ein Gegner der Regierung in der Dreyfus-Sache war und daß der Schmerz um das vergewaltigte Recht und die traurigen Zustände in dem gegenwärtigen Frankreich nicht zum geringen Teil die Ursache seines frühzeitigen Todes wären. „Meine Herren“, schloß Stapfer, „das Recht ist manchmal verschleiert durch die Ne

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[1] Die Notiz ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden)] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Siehe Rosa Luxemburg: Aus Frankreich (Die Kirche schwingt den Weihwedel über dem Generalstab) [27. Juli 1898.]. In: GW, Bd. 6, S. 123 f.

[3] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.