Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 179

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Die Pariser Streikbewegung

[1]

I

Die Pariser Arbeiterschaft steht gegenwärtig in einem jener Kämpfe, die in der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung eines Landes epochemachend sind. Seit dem Beginn der neuesten Entwicklung der französischen Gewerkschaften, das ist seit Ende der achtziger Jahre, hat Frankreich keinen so bedeutsamen Lohnkampf gesehen. Der Kohlengräberstreik von 1893 im Departement Pas-de-Calais umfaßte wohl über 30000 Ausständige, er beschränkte sich aber auf einen einzigen Beruf in einem örtlich abgelegenen Winkel. Jetzt hingegen handelt es sich um einen Kampf zahlreicher wichtiger Berufe in der Hauptstadt, die auch auf gewerkschaftlichem Gebiete der tonangebende Mittelpunkt des Landes ist. Von den gewerkschaftlichen Kräften Frankreichs entfällt nämlich etwa die Hälfte, an die 200000 Mann, auf Paris und Umgebung.

Mehrere Umstände haben dazu beigetragen, daß der Kampf eine so rasche, unwiderstehliche Ausdehnung gewann. In erster Linie kommt in Betracht die ausnahmsweise günstige Lage des Arbeitsmarktes speziell in Paris. Die Bauten der Weltausstellung von 1900, die für die Ausstellung berechnete städtische Eisenbahn, die Verlegung des Bahnhofes der Orleans-Linie nach dem Zentrum der Stadt und die damit zusammenhängende Niederreißung der Ruinen des Rechnungshofs-Gebäudes – all’ diese gleich dringenden Arbeiten sind zu gleicher Zeit unternommen worden. Der Drang der Arbeiter nach Verbesserung ihrer Lage ist desto stärker, als sie Forderungen aufzustellen haben, deren Berechtigung teils seit sechzehn Jahren durch die Gewerbegerichte bzw. den Pariser Gemeinderat, teils seit fünfzig Jahren gesetzlich anerkannt worden sind.

Die wesentlichen gemeinsamen Forderungen der Streikenden aller Kategorien sind nämlich: Einführung des Lohntarifs von 1882, der mit Zustimmung der Arbeiter und der Unternehmer als Minimalgrenze des Lohnes vom Pariser Gemeinderat für die kommunalen und von den Gewerbegerichten für die übrigen Arbeiten festgestellt wurde; Abschaffung der individuellen Lohnverträge, welche den Arbeiter zum Verzicht auf jenen Lohntarif verpflichten und damit ihm den Weg zum Gewerbegericht versperren; Durchführung des von der provisorischen Regierung 1848 dekretierten

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[1] Die beiden Folgen des Artikels erschienen anonym. Rosa Luxemburgs Autorschaft ist in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), unter Nr. 93 ausgewiesen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.