Die Revolution in Rußland
[1]Der Plünderungen und Metzeleien vierter Tag
Kiew, 4. November. Seit bereits vier Tagen ist hier Aufruhr und Plünderung an der Tagesordnung. Das Militär beschießt die Häuser der Juden, weil diese den Plünderern mit bewaffneter Hand Widerstand entgegensetzen. Der Direktor der Reichsbankfiliale telegraphierte an Witte[2], daß er wegen der passiven Haltung des Militärs jede Verantwortung für den Schutz der Bank ablehnen müsse. Dieses Telegramm veranlaßte den General Maworin, etwa 190 Plünderer zu verhaften. Diese Maßregel hat die Plünderer etwas erschreckt und infolgedessen haben die Räubereien nachgelassen.
Die Reaktion regt sich!
Moskau, 4. November. Die monarchistische Partei veröffentlicht eine Kundgebung, worin sie ihre Absicht erklärt, alle Mittel anzuwenden, um die Autokratie in Rußland zu unterstützen. Diese Partei ist es auch, welche verbreitet, das Konstitutionsmanifest sei eine Fälschung Wittes. Die „Moskowskie Wedemosti“ [Moskauer Nachrichten], das Organ dieser Partei, veröffentlicht einen überaus scharfen Angriff gegen den Grafen Witte.
Nur zwei Verwundungen!
Warschau, 3. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Heute kamen hier nur zwei Verwundungen vor. – Die Lehrer der städtischen Schulen haben beschlossen, den Unterricht fortan in polnischer Sprache zu erteilen. – In einer großen Versammlung der Bahnbeamten wurde beschlossen, so lange zu streiken, bis alle Wünsche des Volkes erfüllt seien.
Kischinjow in Flammen!
London, 4. November. Kischinjow soll nach Meldungen aus Odessa durch Feuer völlig zerstört worden sein. Am Freitag fanden in Odessa den ganzen Tag über Straßenkämpfe zwischen den Liberalen und den sogenannten Loyalen statt. Die Anzahl der Toten und Verwundeten wird auf 500 geschätzt. Der deutsche und der französische Konsul ersuchten ihre vorgesetzten Behörden um Entsendung der Stationsschiffe vom Bosporus.
[1] Diese Notizen erschienen in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235.
[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.