Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 320

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1901

An den Nationalrat der Französischen Arbeiterpartei

Liebe Genossen,

der 1. Mai ist vor allem eine Heerschau der internationalen Kräfte des Sozialismus, seiner Fortschritte, seiner Formen. Wie sehr hat sich die Situation der Arbeiterscharen gegenüber jener vor zwölf Jahren verändert!

Aber was ist mit der inneren Krise, die wir mehr oder weniger überall durchmachen?[1] Die Zweifel, die Skepsis, die Abweichungen in unseren Reihen? Ach, sie sind auch nichts anderes als ein Symptom unseres Wachstums!

Infolge des Zerfalles des Lagers der bürgerlichen Demokratie sind in den vergangenen zehn Jahren nach und nach neue Schichten der Gesellschaft zu uns übergetreten, hauptsächlich aus dem Kleinbürgertum und dem Kreis seiner Ideologen: den Intellektuellen.

Aber diese Elemente, die aufgrund der aktuellen sozialen, politischen und intellektuellen Misere zu uns geströmt sind, bringen eine neue Denkart mit, die uns vollkommen fremd ist, eine andere Auffassung vom Ziel des Sozialismus und von der Methode, wie um ihn zu kämpfen sei. Sie müssen zunächst erzogen werden – durch jene Erziehung, die vom Standpunkt des Proletariats ausgeht –, sie müssen dem proletarischen Sozialismus untergeordnet, angegliedert werden.

In Wirklichkeit wird es nicht ohne starke Reibungen, ohne Verlust an Kräften, ohne heftige Krisen gehen. Aber diese Krisen sind nichts anderes als die Nebenkosten der Entwicklung unserer eigenen Macht; sie sind nebensächliche, unvermeidbare Phänomene unseres Wachstums.

Frankreich war früher das klassische revolutionäre Land, das Experimentierfeld für heute veraltete revolutionäre Methoden: für den Handstreich, für die Barrikaden.

Heute ist Frankreich das große Experimentierfeld für sogenannte praktische Methoden des Sozialismus, mit der Absicht, nicht die kapitalistische Gesellschaft zu zerstören, sondern in sie einzudringen, sich mit ihr zu einem bunten Gemisch zu verschmelzen.

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[1] Gemeint sind die Debatten über Strategie und Taktik in den Parteien der II. Internationale, die in bezug auf Bernsteins Revisionismus und auf den Eintritt von Millerand in die Regierung Waldeck-Rousseau ausgebrochen waren. Siehe u. a. S. 183 ff., 277 ff. und 318 f.