Russische Arbeiterinnen im Kampfe
[1]Wer sich davon überzeugen will, daß die Frau dem Manne gleich des höchsten Bürgersinns, der edelsten Bürgertugenden fähig ist, der vertiefe sich in die Geschichte der Freiheitskämpfe, welche Rußland seit Aufhebung der Leibeigenschaft erschüttern. Kein Blatt hier, das nicht in goldenen Zügen die Namen von Frauen trägt, die mit dem Löwenmut von Helden und der begeisterten Opferfreudigkeit von Märtyrern für die Sache der Volksfreiheit gelebt und gelitten haben, für die Sache der Volksfreiheit gestorben sind. In allen Perioden der revolutionären Bewegung standen die Russinnen im Vordertreffen des Streites und bewährten sich glänzend auf den verantwortungsreichsten und gefährlichsten Posten. In den Jahren der friedlichen Propaganda für die Ideen des Sozialismus wanderten Frauen und junge Mädchen von Dorf zu Dorf, von Fabrik zu Fabrik, um Bauern und Arbeitern das Evangelium einer freien und glücklichen Menschheit zu verkünden. In den Zeiten des blutigen terroristischen Kampfes gegen die Schergen des Absolutismus und sein greuelvolles System beugten sie sich unter das Machtgebot der schwersten revolutionären Pflichten, auch jener, die um so unendlich härter sind als die Hinopferung des eigenen Lebens. Und als die Jahre des scheinbaren Erlöschens der Bewegung kamen, da haben sie in der Stille im Dienste ihres Ideals gelernt und gelehrt. Nun aber, da der revolutionäre Kampf aufs Neue entflammt ist, bald hier, bald da in lodernden Gluten emporschlägt, finden wir die Russinnen abermals in Reih und Glied der Freiheitsstreiter.
Die Bewegung der letzten Jahre kündet von einem gewaltigen und entscheidenden Umschwunge, der sich in Rußland vollzogen hat. Allmählich wächst auch hier ein modernes Proletariat heran, das allen Jammer und alle Knechtschaft trägt, welche der Kapitalismus über die Habenichtse verhängt, und dazu noch alle Pein, alle Unterjochung, womit der zaristische Absolutismus seine „Untertanen“ segnet. Unter diesem Proletariat wirbt der sozialistische Gedanke mehr und mehr Anhänger, mehr und mehr Bekennerinnen. Und so ist es heute in Rußland nicht länger die „Intelligenz“ allein – die Welt der Studenten und Gebildeten – welche um Freiheit ringt. Neben der „Intelligenz“ steht das zum Klassenbewußtsein erwachende Proletariat,
[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, dürfte vermutlich das „Bestellte“ sein, was Rosa Luxemburg im März 1902 an Clara Zetkin sandte. Sie wisse zwar nicht, ob sie damit Zetkins Wünschen entspricht, und entschuldigt sich für Ausführlichkeit und Emotionalität. Siehe GB, Bd. 1, S. 632.