Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 384

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Die gesetzliche Revolution

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Die belgische Kammer hat gestern den Antrag auf Revision der Verfassung mit 84 gegen 64 Stimmen abgelehnt. Damit hat sich die parlamentarische Aktion für die Verfassungsänderung bis auf weiteres erledigt. Das revolutionäre Mittel des Generalausstands hat als Waffe gegen die Mehrheit der Kammer und deren Exekutivausschuß, das klerikale Parteiministerium, versagt; nun wendet sich die Bewegung gegen die Regierung als solche und zieht die Institution der Monarchie und das herrschende System überhaupt in Mitleidenschaft.

Die klerikale Parteiregierung gebärdet sich als berufene Hüterin der bürgerlichen Ordnung. Der Ministerpräsident de Smet de Naeyer behandelte in seiner Rede am Donnerstag die Frage eines Nachgebens der Regierung als einen prinzipiellen Präzedenzfall, dessen Konsequenzen die ganze bürgerliche Gesellschaft in Frage stellen. Er stellte am Schluß seiner Rede „höhere Erwägungen“ an und erklärte:

Unter den gegenwärtigen Umständen wiegt die Frage des gleichen Wahlrechts nicht vor, was man auch sagen möge. Das Land ist ängstlich, weil die Frage aufgeworfen ist, ob seine Geschicke weiterhin in der Art erörtert und gehört werden sollen, wie es einem freien Lande geziemt, nämlich durch die friedliche Propaganda und die Tribüne in einem Parlamente, das reiflich und unabhängig berät, oder ob diese Geschicke von nun an in wilder Hast und Lärm entschieden werden sollen, ob die einseitig beschlossenen Lösungen durch die Diktatur der Straße durch Ausstände, Einschüchterungen und Gewalttaten aufgedrängt werden sollen. Heute will ein Teil der Bevölkerung, der hauptsächlich der Arbeiterklasse angehört, den Sieg über die verfassungsrechtliche Gewalt davontragen, um eine Frage des Wahlrechts zu lösen. Was kommt morgen an die Reihe? Welcher Frage wird es später gelten, wenn andere Fragen aufkommen, die für eine mehr oder weniger große Zahl von schlecht unterrichteten Arbeitern ein noch greifbareres Interesse bieten werden? Wenn etwa die sozialistische Partei die Hand auf die wirtschaftliche, industrielle und soziale Gesetzgebung legen will? Wenn es ihr gefällt, ihre Bedingungen in bezug auf Privateigentum, in dem Handel, der Industrie und der Landwirtschaft aufzuerlegen? Oder wenn überhaupt es der sozialistischen Partei gefällt, einen Schritt auf dem Wege zur Unterdrückung der Industrie, der übertriebenen Regelung der Arbeit und des Lohnwesens oder der Beschlagnahme auf

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[1] Der Artikel erschien anonym in der Rubrik „Politische Übersicht“. Rosa Luxemburg ist vermutlich die Autorin. Zur ihrer Rolle in der LVZ hatte sie Clara Zetkin am 16. März 1902 berichtet, sie werde ab 1. April 1902 zusammen mit Franz Mehring die politische Leitung der LVZ übernehmen und alles so ordnen, „um Weiteres von hier aus durch Artikel und Übersichten zu tun“. [Redaktionelle Hervorhebung.] Der belgische Wahlrechtskampf bildete außerdem 1902 einen Schwerpunkt ihrer Beobachtungen und Analysen. Siehe: „Der dritte Akt“, „Steuerlos“, „Die Ursache der Niederlage, „Das belgische Experiment“ und „Zum dritten Male das belgische Experiment“. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., ab S. 195.