Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 796

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Die Revolution in Rußland

[1]

Die Konterrevolution treibt absichtlich zu einer Katastrophe. Nach einem telegraphischen Zirkularbefehl von Durnowo[2] sind sämtliche Post- und Telegraphenbeamten zu entlassen und neue zu engagieren. Der Eisenbahnerstreik muß im Zusammenhang damit nächstens erwartet werden.

In Warschau ist der angesagte allgemeine Eisenbahnerstreik noch nicht ausgebrochen. Allein es dürfte bald zu einem dahingehenden Entschluß in ganz Rußland kommen. Inzwischen dehnen sich die Militärrevolten immer mehr aus. Nachdem die Reservisten der Garnison in der Festung Brest-Litowsk sich äußerst erregt zeigten, wurden zirka 1000 Mann in ihre Heimat entlassen.

Die leitenden Organisationen auf dem Posten

Der „Lokal-Anzeiger“ bringt folgende Privatdepesche: Petersburg (über Eydtkuhnen), 11. Dezember abends. Anläßlich der Verhaftung des Präsidenten des Rats der Arbeiterdeputierten, Chrustalew, fand eine Extrasitzung der Deputierten statt, um zu beschließen, wie der Rat gegen diese Verhaftung reagieren solle. Es wurde vorgeschlagen, mit allen Mitteln den Generalstreik sofort zu inszenieren. Die Mehrzahl der Mitglieder sprach sich jedoch dagegen aus, ein örtlicher Streik wäre zwecklos, und wenn man den Generalstreik verkünden wolle, müßten zunächst sämtliche Eisenbahnen Rußlands herangezogen werden, was von den Delegierten der Eisenbahnen für den jetzigen Moment als ungeeignet bezeichnet wurde. Die Delegierten des Post- und Telegraphenverbandes bestanden darauf, daß zunächst ihr Streik durchgeführt werde. Endlich wurde eine Resolution gefaßt, worin anläßlich der Verhaftung des Präsidenten des Rats der Arbeiterdeputierten die gesamte Gesellschaft zum Protest, das Proletariat dagegen zum bewaffneten Aufstand aufgerufen wird. In der Sitzung waren auch Delegierte der Garde-Flotten-Equipage erschienen, die sich mit den Arbeitern für solidarisch erklärten. Sie seien bereit, im entscheidenden Moment für die Sache des Volkes einzutreten. Vorläufig machen die Matrosen Propaganda unter ihren jungen Kameraden. Die Verhaftung Chrustalews soll erfolgt sein, weil eine ganze Reihe von Artikeln, die der Rat der Arbeiterdeputierten in der Arbeiter-Zeitung veröffent-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Pjotr Durnowo war vom 30. Oktober 1905 bis 22. April 1906 Innenminister.