Stellungnahmen in den Beratungen im Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie zu den Anschuldigungen gegen die PPS am 5. und 6. Oktober 1900
[1]Aus einem Protokoll des Vorstandes der PPS im preußischen Annexionsgebiet[2]
[…] Auf die Frage des Genossen Bebel,[3] warum Kasprzak aus der Partei ausgestoßen wurde, motivierte Morawski die Ursachen hierüber und berief sich dabei auf die Zeugen S./ gegenwärtig in Sibirien/Mendelsohn, Podwinski u. a. m., die mündlich und schriftlich die Angelegenheit uns unterbreitet hatten. […]
Nach Morawski ergriff Frau Luxemburg das Wort. Sie stellte Kasprzak ganz schuldlos hin und führte in Längerem aus, daß die ganze Angelegenheit nur ein Werk einzelner nichtswürdiger Feinde sei; es sind dies Angriffe von sogenannten Sozial-Patrioten usw.[4][…]
[Nach langer Debatte kam es zu folgender Feststellung:] Der deutsche Parteivorstand [vertreten durch Bebel, Auer, Pfannkuch und Ernst] erachtet die Ausschließung Kasprzaks für nicht gerechtfertigt. – Kasprzak ist von jetzt ab ein Mitglied des vollsten Vertrauens.
Die zweite Anklage machten gleichfalls Winter, Rosa Luxemburg und Gogowski anhängig. Als Anklagematerial legten die Ankläger die Jahrgänge der „Gazeta Robotnicza“[5] vom Jahre 1897–1900, sowie „Bulletin de Partie Socialiste Polonais“ vor. Auf Grund der in denselben aufgenommenen Artikeln, Notizen und Erwiderungen der Redaktion usw. erlaubte sich Winter zu äußern, daß die „Gazeta Robotnicza“ sich mehr mit polnischen Angelegenheiten als mit der Arbeiterklasse beschäftigt. […]
Zu demselben Thema sprach auch die Frau Luxemburg, indem sie auch ca. zwei Stunden die Zeitungen hin und her warf, und dieselben als das größte Übel, das ihr jemals vorgekommen ist, bezeichnete.
„Sozial-Patriotismus“, das ist die Parole der „Gazeta Robotnicza“. Dieselbe hat unter der Führung ihrer bisherigen Leiter schon dadurch ein großes Unrecht begangen,
[1] Überschrift der Redaktion.
[2] Am 10. September 1893 hatte sich die 1890 gegründete Vereinigung polnischer Sozialisten unter Führung von Franciszek Morawski und Franciszek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen zur Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) des von Preußen annektierten Teiles von Polen konstituiert. Sie blieb bis 1903 autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Siehe auch Fünfter Parteitag der PPS in Berlin am 15. und 16. April 1900. In: GW, Bd. 6, S. 297 ff.
[3] Die Frage Bebels ergab sich aus der Anklage von Rosa Luxemburg, August Winter und Joseph Gogowski, der Vorstand der PPS, die seit 1893 zur deutschen Sozialdemokratie gehörte, habe wesentlich zum Parteiausschluß von Kasprzak 1897 beigetragen.
[4] Eine ausführliche Charakteristik von Marcin Kasprzak siehe „Ein Opfer des weißen Terrors“, S. 551 ff.
[5] Die Wochenschrift Gazeta Robotnicza war das Organ der PPS im preußischen Annexionsgebiet und erschien in polnischer Sprache von 1891 bis 1901 in Berlin.