Die gegenwärtige politische Lage. Rede am 22. November 1899 in einer Volksversammlung in Magdeburg
Nach einem Zeitungsbericht
Als Referentin war Frau Dr. Rosa Luxemburg aus Berlin erschienen, sie sprach über „Die gegenwärtige politische Lage“ in ausführlicher Weise. Obgleich die Stimme der Rednerin für diese große Versammlung etwas schwach erschien, so trat doch bald nach dem Beginn des Referats eine Ruhe im Saale ein, die es ermöglichte, daß der fein durchdachte Vortrag auch in den äußersten Ecken des Saales gehört werden konnte. Die Vortragende schilderte zunächst das Schicksal der Zuchthausvorlage und erging sich alsdann in interessanten Ausführungen über die Bestrebungen, Marine und Heer zu vermehren: ihre Behauptungen wurden durch angeführte zahlenmäßige Beweise unterstützt. Hervorgehoben wurde ferner von der Rednerin besonders, wie seitens der herrschenden Klassen alles in Bewegung gesetzt wird, um den emporstrebenden vierten „Stand“ niederzuhalten und wie die in der vorigen Reichstagsperiode verhandelten Gesetzesvorlagen den in neuester Zeit erschienenen ungemein ähneln. Reicher Beifall lohnte die Vortragende für ihre Ausführungen.
Volksstimme (Magdeburg),
Nr. 276 vom 25. November 1899.
Nach einem Polizeibericht
Nach Eröffnung der Versammlung erhielt Frau Luxemburg zur Tagesordnung das Wort. Diese verbreitete sich hauptsächlich über die gefallene Zuchthausvorlage[1] und über das bevorstehende Flottengesetz.[2] Im Reichstage seien nicht die Volksvertreter, sondern andere Faktoren, wie kaiserliche Politik und Reden, tonangebend. Bei der Zuchthausvorlage hätten die Staatsmänner ihren Zweck nicht erreicht, sondern sich beim Volke bloßgestellt. Erst im Frühjahr vergangenen Jahres sei eine Flottenerhöhung bewilligt worden, und jetzt scheue man sich nicht, schon wieder mit einer derartigen Vorlage hervorzutreten. Es würde immer behauptet, die Flotte sei nötig, um
[1] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.
[2] Nach Annahme der ersten Flottenvorlage als Flottengesetz vom 10. April 1898 (mit der Deutschland das Wettrüsten zur See, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen Deutschland und England führte, begann) wurde Ende 1899 eine zweite Flottenvorlage vorbereitet, die am 12. Juni 1900 mit 201 gegen 103 Stimmen angenommen wurde. Sie sah eine Verdoppelung der vorgesehenen Schlachtflotte bis zum Jahre 1917 vor. Die deutsche Flotte soll danach aus 34 Linienschiffen, 11 schweren und 34 leichten Kreuzern und rd. 100 Torpedobooten bestehen, außerdem aus einem Reservegeschwader von 4 Panzerschiffen, drei schweren und vier leichten Kreuzern. Als Kosten wurden in der Vorlage 1861 Mill. M angegeben.