Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 757

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Die Revolution in Rußland

[1]

Infolge des Telegraphenstreiks sind aus Rußland fast gar keine Nachrichten eingetroffen; die spärlichen, welche vorliegen, kommen auf Umwegen, stark verspätet.

Herr Witte ohne Maske[2]

Eine Abordnung der ausständigen Post- und Telegraphenbeamten erschien am 1. Dezember beim Grafen Witte, wurde aber nicht vorgelassen. Witte ließ sagen, daß ein Ausstand der Post- und Telegraphenbeamten in keinem zivilisierten Lande geduldet werden würde, und empfahl der Abordnung, sich „an ihre unmittelbaren Vorgesetzten“ zu wenden.

Die „liberale“ Vermittlerrolle des Premiers ist also endgültig ausgespielt. Angesichts der kräftigen revolutionären Aktion ist es mit der Gemütlichkeit aus.

Das abgeschnittene Zarenreich

Kopenhagen, 2. Dezember. (W.T.B.)[3] Wie das hiesige Telegraphenamt mitteilt, ist seit heute Nachmittag 4 Uhr die telegraphische Verbindung mit Rußland jetzt vollständig unterbrochen.

Die Nachklänge der Sewastopoler Schlacht

Petersburg, 2. Dezember. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Über die Ereignisse in Sewastopol ist ein Telegramm vom Generalleutnant Möller-Sakomelski vom 1. Dezember eingegangen und lautet: Die militärische Meuterei ist vorüber; die treuen Truppen hielten sich vorzüglich; es wurden mehr als 2000 Mann der Aufständischen gefangen gesetzt. Die Haltung der Einwohner, insbesondere der Juden und der Revolutionäre, ist beunruhigend; sie verhöhnen und bedrohen die Offiziere.

Wien, 2. Dezember. Nach hier angelangten Privatmeldungen aus Moskau sollen entgegen offiziösen Berichten in Sewastopol die Kämpfe noch fortdauern. In Odessa herrscht große Panik, da Judenmetzeleien befürchtet werden. Das dortige Sappeurregiment meutert. General Kaulbars hat den Zeitungen in Moskau angedroht, daß, wenn sie weiter fort-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[3] Wolffs Telegraphisches Büro.