Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 876

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Wie doch manche braven Genossen in einen solchen Größenwahn verfallen können, daß sie glauben, wenn sie nach dem Vorbilde der Krähwinkler Stadtväter dem Volke „das Maul zu halten“ befohlen haben, die Weltgeschichte auch respektvoll vor diesem Ukas Halt macht!

Die Leidensgeschichte einer staatsgefährlichen Schleife

Wie bekannt, wurde bei der vorjährigen Lassalle-Feier in Breslau am Nachmittage auf dem Grabe Lassalles die Schleife vom Kranze der Schiffszimmerer von der Polizei abgeschnitten. In diesem Jahre widmeten die Schiffszimmerer Lassalle wieder einen Kranz, der die gleiche Inschrift trug, wie der des Vorjahres:

Dem ersten kühnen Rebellen,

Widmen die vaterlandslosen Gesellen.

Diesmal erfolgte aber ebenso wieder eine Konfiskation der Schleife, und zwar noch vor dem Friedhofseingange. Auf eine Beschwerde beim Polizeipräsidenten wurde die Schleife wieder herausgegeben, doch mit einem polizeilichen Schreiben, wonach „die Entfernung und Beschlagnahme der rotseidenen Kranzschleife nebst Aufschrift seitens des Revier-Polizeikommissarius gerechtfertigt war, weil dieselbe als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein konnte und weil auch ein nachträgliches Niederlegen desselben auf dem Friedhofe, also eine Zuwiderhandlung gegen § 360 Ziffer 11 Strafgesetzbuchs, dadurch verhindert werden sollte.“

Mit dem Bescheide gaben sich die Schiffszimmerer nicht zufrieden und reichten eine Beschwerde beim Regierungspräsidenten ein. Von diesem wurden sie abgewiesen mit der Erklärung, daß die Beschlagnahme der Schleife gerechtfertigt ist, weil die Widmung auf derselben „wegen ihres demonstrativen Charakters unpassend wäre“!

Die Breslauer Schiffszimmerer geben sich nun auch mit diesem salomonischen Spruch nicht zufrieden und gehen nunmehr an den Minister des Innern.

Eine kleine, aber nette Episode aus der preußisch-deutschen Misere – im Jahre der gigantischen russischen Revolution! …

Vorwärts (Berlin),

Nr. 281 vom 1. Dezember 1905.

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