Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 710

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Die Revolution in Rußland

[1]

Zur Agrarrevolution in Rußland

Uns wird geschrieben: Auf Initiative der Semstwostatistiker und Semstwoagronomen[2] hat im Mai dieses Jahres zum ersten Mal ein Kongreß der Bauern des Gouvernements Moskau stattgefunden. Dieser Kongreß beschloß, es müsse ein Bauernbund für ganz Rußland gegründet werden. Mitte August fand der erste konstituierende Kongreß des Bauernbundes für Gesamtrußland in Moskau statt. Es waren auf ihm anwesend ca. 100 Bauern aus 22 Gouvernements. Auch offizielle Vertreter der Sozialdemokratischen Partei und der Partei der Sozialisten-Revolutionäre[3] nahmen an den Verhandlungen teil. Der Kongreß sandte den Brüdern – Arbeitern, die in den Städten für die politische Freiheit kämpfen, – den wärmsten Dank und schloß sich den politischen Forderungen – der russischen Arbeiterschaft an.

In der Agrarfrage wurde der folgende Beschluß gefaßt:

1. Das Privateigentum auf Grund und Boden wird aufgehoben.

2. Die Länder der Klöster, der Kirchen, des Adels (d. h. der Krone) sollen konfisziert werden ohne Entschädigung.

3. Das Land der Großgrundbesitzer wird zum Teil gegen Entschädigung, zum Teil ohne eine solche konfisziert.

4. Die Bedingungen, unter denen das Land der Großgrundbesitzer konfisziert werden soll, werden von der Konstituierenden Versammlung festgesetzt werden.

Über die weitere Tätigkeit des Bauernbundes brachte die „Nowoje Wremja“ [Neue Zeit] vom 9. November 1905 die folgende Notiz: „Das Büro des Bauernbundes für Gesamtrußland hat vom heutigen Tage an seine Tätigkeit begonnen, indem es das Material für den im Januar bevorstehenden Bauernkongreß für Gesamtrußland vorbereitet. Das Büro versendet Aufrufe mit einem fertigen Gemeindebeschlußentwurf. Es wird den Bauern vorgeschlagen, diesen Gegenstand zu besprechen und darüber Gemeindebeschluß zu fassen. Der Entwurf empfiehlt, sich auszusprechen für das allgemeine Wahlrecht mit Einschluß der Frauen, für die direkte und geheime Stimmabgabe, für die Aufhebung der Stände, für die Selbstverwaltung der Wolostverwal-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten.

[3] Die 1901/1902 entstandene Partei der Sozialisten-Revolutionäre (Sozialrevolutionäre) vertrat die Interessen des Kleinbauerntums und hatte die Beseitigung des Zarismus und eine demokratische Republik zum Ziel. Zu ihren Kampfmitteln gehörten terroristische Anschläge. Später spaltete sie sich in einen linken und rechten Flügel.