Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 411

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Revisionisten und Zolltarif

[1]

Von parlamentarischer Seite wird uns geschrieben: Über das Schicksal des Zolltarifs[2] orakelt mit Vorliebe die schutzzöllnerische Presse. Zwei Richtungen, die sich in ihrer Gruppierung den Zöllnern in der Zolltarifkommission anschließen, sind dabei zu unterscheiden. Die eine Richtung gebärdet sich wildagrarisch und dient dem Bund der Landwirte; die andere hat sich den Sammelzöllnern ergeben, die von der Rechten und dem Zentrum – einschließlich der Antisemiten, Polen und Welfen – bis zum linken Flügel der Nationalliberalen reichen. Beide Richtungen haben jede ein Potpourri von Vermutungen über das Schicksal des Zolltarifs komponiert, an dem sich die öffentliche Meinung betäuben und verwirren kann. In der Tat hat es auch manchmal den Anschein, ob durch die Verhandlungen in der Tarifkommission die Situation verwickelt und die Regierung durch die Überzöllner, die die Agrarzölle erhöhten, in eine Klemme gebracht worden sei. Doch das scheint nur so. Freilich schadet es dem Ansehen der Regierung, wenn ihr die ungebärdigen Agrarier ungehobelte Redensarten ins Gesicht schleudern; aber es ist doch festzuhalten, daß die Sammelzöllner, vom konservativen Grafen Schwerin bis hinüber zu dem nationalliberalen Paasche, in aller Stille am Werke sind, um die Regierungsvorlage als Grundlage für neue Handelsverträge durchzudrücken. Daran wird auch dadurch nichts geändert, daß diese Zollkoalition in der Kommission die Zollsätze der Vorlage höher schraubte. Diese Höherschraubung ist nur die erste Abbröckelung von den agrarischen Hochforderungen.

Ob diese Schachermethode bei der zweiten Lesung des Tarifs in der Kommission fortgesetzt wird; ob die Kommissionsbeschlüsse dann dem Plenum zur zweiten Lesung überwiesen werden; ob die Reichsregierung inzwischen handelspolitische Verhandlungen mit den Regierungen anderer Staaten pflegt und daraufhin ihre jetzige Stellung ändern könnte; ob und was noch bis zum Abschluß neuer Handelsverträge der Situation möglicherweise ein anderes Gepräge geben könnte – das alles sind

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg, siehe S. Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] Bereits im Februar/März 1901 hatte es gegen die Erhöhung der Getreide- und Fleischzölle eine machtvolle sozialdemokratische Protestbewegung gegeben, nachdem erste Einzelheiten des Entwurfs eines Zolltarifgesetzes und eines neuen Zolltarifs bekannt geworden waren. Danach sollten enorme Erhöhungen der Agrar- und einiger Industriezölle erfolgen, die für die Mehrheit der Bevölkerung auf eine wesentliche Verschlechterung der Lebenslage hinausliefen.