Die Deutschen in den Ostseeprovinzen
[1]Alle bürgerlichen Blätter sind voll von Schreckensnachrichten über die in den russischen Ostseeprovinzen von den „Letten“ verübten Greuel. Tränen fließen allenthalben über die armen deutschen Opfer der bäuerischen Ruchlosigkeit des Lettenvolkes. Sammlungen werden bereits für diese Opfer veranstaltet, und die Edelsten und Besten der Nation, denen manchmal die entsetzlichsten kosakischen Greueltaten gegen das wehrlose Volk in Rußland nicht einen Schimmer von menschlicher Rührung zu entlocken vermochten, sind außer sich vor heiligem Zorn angesichts der ihren Landsleuten widerfahrenen Mißhandlung. Bis jetzt ist nun von keiner Seite die Frage berührt und beantwortet worden: Wie ist es denn eigentlich in den baltischen Provinzen zu diesem plötzlichen Ausbruche des Deutschenhasses gekommen? Und vor allem: Wer sind jene Deutschen und wer jene Letten, die gegenwärtig im offenen Bürgerkriege gegeneinander stehen? Über diese entscheidenden Fragen gibt uns die nachfolgende Privatkorrespondenz aus Livland ausreichende Antwort:
Riga, 18. Dezember. (Eig. Ber.) Sie wissen wohl schon, daß die ersten Nachrichten, die über die hiesigen Vorgänge in die Welt ausposaunt worden sind, kolossale Übertreibungen enthielten und überhaupt ein ganz unklares Bild von den Vorgängen gaben. Von Mordtaten und Feuersbrünsten war hier in Riga sowie in anderen Städten nichts zu sehen. Die Arbeiterschaft hat einfach einen Generalstreik erklärt und auch ausgeführt, weil die lettische Sozialdemokratie annahm, daß ein solcher für ganz Rußland erklärt worden wäre. Die großartige Disziplin, mit der die hiesigen Arbeiter der Parole der Sozialdemokratie gefolgt sind und das gesamte Industrie- und Handelsleben zum Stillstand gebracht haben, konnte wohl der Bourgeoisie einen ordentlichen Schreck einjagen und sie auch zur Wut bringen. Aber daraus allein läßt sich die allgemeine Panik nicht erklären. Hier kommt eine andere Bewegung noch in Betracht, das ist unsere ländliche Bewegung. Es muß vorausgeschickt werden, daß hier in den baltischen Provinzen auf dem flachen Lande ganz eigenartige Verhältnisse herrschen. Die vorherrschende Form des Grundbesitzes ist ritterlicher Großgrundbesitz auf höchster Stufenleiter, direkte Latifundienwirtschaft. In Livland zum Beispiel gehört etwa ein Drittel der ganzen Bodenfläche, in Kurland etwa die Hälfte dem adeligen
[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Er ist ähnlich wie ihre Rubrik „Die Revolution in Rußland“ angelegt, in der sie mehrfach über das Revolutionsgeschehen in Riga und über Probleme des Nationalismus informierte. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235.