Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 429

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Die Lebensmüden

[1]

Es gibt noch Republikaner. Männer, die die heimischen Penaten ohne Umstände verlassen und die Diktatur der republikanischen Verteidigung übernehmen, wenn das Vaterland in Gefahr ist, und in einfältiger Bescheidenheit wieder zum Pflug der Berufsarbeit zurückkehren, wenn sie den Feind aufs Haupt geschlagen. So ein Republikaner von altem Schrot und Korn ist Monsieur Waldeck-Rousseau, Premierminister der französischen Bourgeoisrepublik; ein moderner Cincinnatus. Nun die Republik gerettet und der Nationalistenschrecken gebannt ist, hängt er sein Portefeuille an den Nagel und kriecht stolz-bescheiden wieder in die Advokatenrobe. Das ist altrömische Bürgertugend! Ein solches Schauspiel wird in unserer Zeit, in der der „Wille zur Macht“ Fleisch geworden ist, nicht alle Tage gegeben.

Alle Welt läuft darum dem Spektakel nach, und der Telegraph bringt intime Kunde von den Einzelheiten, unter denen sich das politische Harikiri des Ministerpräsidenten vollzieht. Er will in Schönheit sterben. In Schönheit und in Tugend. Um dem guten Sohn seiner Mutter, dem Herrn Loubet, den Besuch bei der sagenhaften Bäuerin in Montélimar zu ermöglichen, die dem ersten Bürger der Republik nach einer kleinbürgerlichen Legende noch immer eigenhändig die Socken strickt, hat das Kabinett Waldeck-Rousseau das offizielle Bulletin von seinem Selbstmord noch bis nächsten Montag verschoben, obgleich dieser schon so gut wie perfekt ist, und auch Kollege Millerand scheidet, wie uns heute unser französischer Berichterstatter mitteilt, mit einer sentimentalen Apotheose des Spar- und Genossenschaftswesens (S[iehe] unter Frankreich).Wer hätte geglaubt, daß so viel Gerechtigkeit und Tugend in dem sündigen Sodom und Gomorrha jenseits der Vogesen zu finden wäre?[2]

So scheiden sie aus dem Leben der politischen Macht, aus der süßen Gewohnheit des ministeriellen Daseins, um in den dunklen Wogen des Kammerdaseins zu verschwinden. Waldeck-Rousseau, düster und todesbereit, mit trotzigem Blick auf das wilde Element, das er so oft mit oratorischen Erfolgen gebändigt. Millerand, wehmütig sich zurückwendend nach dem kurzen Sonnentag des politischen Glücks, der ihm – und anderen so viele Enttäuschungen gebracht.

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[1] Der Artikel erschien anonym in der Rubrik „Politische Übersicht“. Rosa Luxemburg ist vermutlich die Autorin, siehe dazu S. 398, Fußnote 1.

[2] Alexandre-Ètienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine sozialreformerische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erstmalige Eintritt eines Sozialisten in die Regierung eines bürgerlichen Staates führte in der II. Internationale zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Reformisten.