Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 446

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Gedankenfreiheit

[1]

Kommentare der bürgerlichen Presse zu dem Münchener Parteitage[2] sind so unverständig wie immer; nur daß diesmal nicht, wie sonst meistens, die sogenannte „Spaltung“ der Partei, sondern die in ihren Reihen angeblich gefährdete Meinungsfreiheit das Thema hergeben muß, das die bürgerlichen Weltweisen ableiern, um sich über die wachsende Macht der Sozialdemokratie zu trösten. Sie stützen sich dabei auf einzelne Äußerungen, die auf dem Parteitage gefallen sind und etwa die unrichtige Auffassung zulassen, als ob von den „Zielbewußten“ ein Meinungsterrorismus geübt werde. Dieser Umstand mag es rechtfertigen, wenn wir mit einigen Worten auf eine Frage eingehen, die an und für sich freilich klar genug liegt.

Die Forderung der Gedankenfreiheit entstand historisch in der Zeit, wo das moderne Bürgertum seinen Klassenkampf gegen die feudal-kirchlichen Herrschaftsformen des Mittelalters begann, und, um sich als Klasse zu organisieren, der Gedankenfreiheit in Rede und Schrift bedurfte. Nach ihren damaligen historischen Existenzbedingungen sah die bürgerliche Klasse in ihrer Emanzipation die Emanzipation der ganzen Menschheit, und die von ihr geforderte Gedankenfreiheit erschien als ein leuchtendes Ideal, das nur verwirklicht zu werden brauche, um ein allgemeines Reich der Glückseligkeit zu gründen. Heute ist es nun mehr oder minder in allen modernen Staaten verwirklicht; sogar die preußische Verfassung erklärt feierlich: Jeder Preuße hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern.

Freilich sieht es damit in der Praxis vielfach noch ganz anders aus; die herrschenden Klassen haben noch immer Mittel genug, die Gedankenfreiheit zu unterdrücken und machen von diesen Mitteln noch immer reichlichen Gebrauch, nicht nur die reaktionären Klassen mit den alten brutalen Gewaltmitteln, sondern auch die kapitalistischen mit dem noch infameren, weil noch wirksameren Mittel des heimlichen Boykotts. Indessen in ihrer besonderen Weise hat die bürgerliche Klasse das Ideal der Gedankenfreiheit verwirklicht, wenn auch keineswegs dadurch ein allgemeines Reich der Glückseligkeit begründet, und so spreizen sich denn die Organe in dem stolzen Bewußtsein, dem sozialdemokratischen Meinungsterrorismus weit überlegen zu sein.

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[1] Der Artikel erschien anonym, Rosa Luxemburgs Autorschaft ist in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1971 (Feliks Tych: Uzupelnienia do Bibliographii Prac [Pierwodruków] Rózy Luksemburg. In: Z pola walki 1971, Nr. 1), unter Nr. 33 ausgewiesen.

[2] Siehe S. 444, Fußnote 2.