Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 392

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Die Furcht vor dem Siege

[1]

In der deutschen Sozialdemokratie besteht vollkommene Übereinstimmung über den Satz, daß die Revolutionen alten Stils vorüber seien, daß die Emanzipation des Proletariats nicht durch einen gewaltsamen Handstreich erobert werden könne. Friedrich Engels hat diesen Satz in seiner letzten Schrift klassisch begründet,[2] aber er hat ihn keineswegs zuerst aufgestellt; er ist vordem schon oft von sozialdemokratischer Seite, namentlich in den Verhandlungen des Reichstags über das Sozialistengesetz, nachdrücklich hervorgehoben worden.

Es gibt nun aber leider keine erschöpfende Wahrheit in historischen Dingen, und in dem Augenblick, wo sich ein richtiger Satz zur allgemeinen Anerkennung durchgerungen hat, beginnt er auch, nach einer bereits von Hegel gemachten Beobachtung, ein schiefes Vorurteil zu werden. So hat jenes Axiom von der gänzlichen Überlebtheit der Revolutionen alten Stils in der Arbeiterklasse vielfach eine Neigung oder eine Stimmung erzeugt, die sich am treffendsten als die Furcht vor dem Siege kennzeichnen läßt. Man glaubt nicht ohne Grund an die treuherzige Versicherung der herrschenden Klassen, daß sie sich ihre gesetzlichen oder tatsächlichen Privilegien nicht anders als gewaltsam entreißen lassen würden, und da die Arbeiterklasse im gewaltsamen Streit nichts ausrichten kann, so darf sie scheinbar ihre Erfolge nicht bis zu einem Punkte treiben, der die sehr lose Hand der herrschenden Klassen zur Flinte oder zum Säbel greifen läßt.

Ein klassisches Pröbchen dieser Furcht vor dem Siege liefert ein belgischer Spezialkorrespondent deutscher Parteiblätter. Um den Rückzug der belgischen Parteiführer zu rechtfertigen, sagt er, sie hätten den Sieg freilich in Händen gehabt, aber sie hätten ihn preisgeben müssen, um nicht zu sehr zu siegen. Der Generalstreik würde zwar das allgemeine Stimmrecht erobert haben, allein er wäre auch eine Revolution geworden, die den König verjagt hätte. Dann wäre die soziale Republik ent

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, ist aber sehr wahrscheinlich von Rosa Luxemburg. In ihrem Brief vom 24. April 1902 kündigte sie Franz Mehring an, sie müsse morgen, „vorausgesetzt, daß Sie nichts Dringendes haben, über Belgien einen Schlußartikel“ schreiben. GB, Bd. 1, S. 633.

[2] Gemeint ist die Einleitung von Friedrich Engels für die Einzelausgabe der Schrift von Karl Marx „Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“ aus dem Jahre 1895. In ihr heißt es in bezug auf Frankreich und Deutschland: „Denn auch hier hatten sich die Bedingungen des Kampfes wesentlich verändert. Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet.“ MEW, Bd. 22, S. 519.