Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 499

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Im Sturm

Der Maifeiertag wird dieses Jahr unter besonderen Umständen gefeiert, mitten im Lärm des Krieges.[1] Dadurch ist natürlich in diesem Jahr der Charakter der Demonstration durch den Kampf um den Weltfrieden geprägt. Aber nicht nur das: In dieser Kriegszeit muß mehr denn je die pazifistische und proletarische Demonstration das Verständnis dafür befördern, daß der universale Frieden nur zusammen mit dem sozialistischen Endziel erreicht werden kann.

Wenn der Russisch-Japanische Krieg etwas bewiesen hat, dann ist es die Eitelkeit, mit der die „menschenfreundlichen“ Sozialisten darauf spekulierten, den Weltfrieden auf einem Gleichgewichtssystem des Zwei- und des Dreibundes aufbauen zu können.[2] Diese Lobredner der militärischen Bündnisse konnten gar nicht genug davon bekommen, ihr Entzücken über den in Mitteleuropa seit 30 Jahren währenden Frieden immer wieder auszudrücken. Die Existenz dieser Bündnissysteme reichte ihnen aus, um den „kommenden Frieden“ und eine „Menschheit in Frieden“ als das Natürlichste in der Welt zu verkünden. Das Donnern der Kanonen von Port Arthur, das die europäischen Börsen hat krampfhaft erzittern lassen, erinnert diese sozialistischen Ideologen der bürgerlichen Gesellschaft jedoch gewaltsam daran, daß sie in ihrer Phantasie über den europäischen Frieden einen Faktor vergessen hatten: die moderne Kolonialpolitik, die nun das Stadium der lokalen europäischen Konflikte hinter sich gelassen hat, weil sie sich auf den großen Ozean ausweitet. Durch den Russisch-Japanischen Krieg müßte auch dem Letzten klarwerden, daß die Schicksalsfrage nach Krieg oder Frieden in Europa ab jetzt nicht mehr innerhalb der vier Wände, zwischen denen das europäische Konzert stattfindet, entschieden wird, sondern außerhalb, im gigantischen Mahlstrom der Welt- und Kolonialpolitik.

Darin besteht für die Sozialdemokratie die eigentliche Bedeutung des aktuellen Krieges, abgesehen von seiner kurzfristigen Auswirkung: dem Zusammenbrechen des russischen Absolutismus. Dieser Krieg lenkt weltweit die Blicke des Proletariats auf die großen politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge dieser Welt und drängt in unseren Reihen gewaltsam die nationalen Egoismen und die Engstirnigkeit

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[1] Gemeint ist der Russisch-Japanische Krieg, der von Januar 1904 bis September 1905 um die Vorherrschaft im Fernen Osten geführt wurde, mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen endete und die revolutionäre Krise in Rußland verschärfte.

[2] Gemeint sind die militärischen Bündnisse zwischen den europäischen Mächten zu kolonial- bzw. weltpolitischen Zwecken, der französisch-russische Zweiverband von 1892, der Dreibund zwischen Deutschland, Österreich und Italien seit 1882/83; und 1904 entstand schließlich zwischen Großbritannien und Frankreich die Entente cordiale, die sich 1907 mit Rußland zur Tripelentente erweiterte.