Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 574

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Der Vormarsch der Revolution

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Der gewaltige Kampf gegen den Zarismus ist nunmehr auf der ganzen Linie entbrannt. Der Generalstreik der Eisenbahner, der diesmaligen Sturmkolonne des russischen Proletariats, hat explosivartig um sich gegriffen und den Verkehr fast des ganzen Landes lahmgelegt. Auch die Post- und Telegraphenbeamten haben sich zum Teil bereits dem Ausstande angeschlossen. Daher kommt es wohl auch, daß die Nachrichten über die Vorgänge im Zarenreiche heute noch spärlich fließen. Was indes gemeldet wird, beweist, daß der gegenwärtige Kampf auf viel breiterer Front entbrannt und mit viel größerer Entschlossenheit geführt wird als zuvor.

In den Hauptstädten des Landes, in Petersburg, Moskau und Warschau herrscht der Generalausstand. Auch der Handelsverkehr ruht zum großen Teile, selbst die Apotheken sind geschlossen. Bahnhöfe und Postämter sind militärisch besetzt. Lebensmittel und Heizungsmaterial drohen auszugehen. Noch ist es zu keinen Zusammenstößen gekommen, allein die Ruhe ist die vor dem Orkane. Die Bourgeoisie ist von Panik ergriffen. Man fürchtet den Ausbruch furchtbarer Unruhen. Der Zar selbst soll sich in höchster Aufregung befinden und entschlossen sein, den drohenden Stürmen durch die Flucht in das Ausland zu entgehen.

Trotzdem beharrt die Regierung bei ihrer Politik des Trotzes. Von der Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, die aus dem gleichen allgemeinen Wahlrecht hervorginge, ist keine Rede. Dafür glaubt man die Massen durch Verabreichung kleiner Stückchen Zucker beschwichtigen zu können. Herr Witte will am Freitag die Pressefreiheit proklamieren, auch noch „andere wichtige Zugeständnisse“ werden in Aussicht gestellt. Damit wird sich aber jetzt das Volk nicht mehr abspeisen lassen. Unter der Flagge der Pressefreiheit würde ja doch nur die reaktionäre Volksbetörung im größeren Stile versucht werden, wie das die Regierung ja selbst in Kuropatkinscher Offenherzigkeit ausgeplaudert hat. Die Revolutionäre haben auch ohnehin schon die Pressefreiheit für sich in Anspruch genommen, ebenso wie sie sich die Redefreiheit gestatteten, trotz aller Spitzel und Zarenschergen. Und was nützte dem Volke die unbeschränkte Pressefreiheit, wenn sie nicht das Mittel sein soll, sich auch die geforderten gesetzgeberischen Rechte zu erkämpfen? Die kleinen Lock- und Beschwich-

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, auf Rosa Luxemburgs Autorschaft lassen ihre Briefe an Leo Jogiches vom 29. September 1905, insbesondere ab 6. Oktober 1905 schließen, siehe GB, Bd. 2, S. 177 und S. 183 ff. – Siehe auch S. 56, Fußnote 1.