Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 579

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Vor der Katastrophe?

[1]

Die furchtbare revolutionäre Spannung in Rußland hat sich noch erhöht. Der Generalstreik hat bereits eine kolossale Ausdehnung angenommen. Der Eisenbahnverkehr liegt im ganzen weiten Zarenreiche darnieder. Zu dem allgemeinen Ausstand der Eisenbahnarbeiter ist der Generalstreik der übrigen Arbeiter in zahlreichen Städten getreten: in Petersburg, Moskau, Warschau, Łódź, Kiew, Charkow, Samara usw. Mehr als eine Million Arbeiter soll sich bereits im Ausstand befinden. Durch die völlige Stockung des Verkehrs und den Streik sind die Lebensmittel knapp geworden und die Preise in die Höhe geschnellt. Die Gärung nimmt deshalb ständig zu und man erwartet stündlich den Ausbruch des blutigen Bürgerkrieges. Trotzdem glaubt die Regierung noch immer auf die Bajonette vertrauen zu können. Der Polizeiminister Trepow soll versichert haben, daß er nunmehr in der Lage sei, jeden Gewaltstreik in Petersburg zu paralysieren und den Widerstand in den Provinzstädten zu brechen. An der rapiden Ausbreitung des Ausstandes sei nur die schlechte Organisation der Provinzpolizei schuld, die ihn, Trepow, bis zur letzten Stunde ungenügend informiert und seine Befehle nicht immer korrekt ausgeführt habe. Dieser ebenso bornierten wie brutalen Auffassung des Oberpolizeischergen entspricht denn auch die freche Drohung Trepows an die Petersburger Bevölkerung. Sie lautet:

Die Residenzbevölkerung ist durch Gerüchte von bevorstehenden Massenunruhen aufgeregt. Maßregeln zur Aufrechterhaltung der Ordnung sind ergriffen; ich bitte daher, den Gerüchten nicht zu glauben. Etwaige Versuche zu Unruhestiftungen werden unverzüglich aufs energischste unterdrückt werden und keine Ausbreitung gewinnen. Falls bei Unterdrückung derselben Volkshaufen Widerstand leisten, werden die Truppen und die Polizei gemäß meinem Befehl nicht anfänglich blind, sondern sofort scharf schießen und keine Patronen schonen. Ich gebe dies bekannt, damit jeder, der sich an Ansammlungen zu Unruhestiftungen beteiligt, weiß, was er zu erwarten hat, die besonnene Bevölkerung aber den Unruhen fernbleibt.

Ob dieser so siegessicher sich blähende Polizeiterror nicht doch im Ernstfalle schmählich zusammenbrechen würde, ist die Frage. Bei der intensiven Bewegung,

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[1] Der Artikel erschien anonym, auf Rosa Luxemburgs Autorschaft lassen ihre Briefe an Leo Jogiches vom 29. September 1905, insbesondere die ab 6. Oktober 1905 schließen, siehe GB, Bd. 2, S. 177 und S. 183 ff.