Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 604

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Das Pulver trocken, das Schwert geschliffen!

[1]

Die Feuerprobe für den politischen Wert und Gehalt einer Partei ist nicht ihr Verhalten vor der Schlacht, nicht einmal während der Schlacht, sondern nach derselben. Jenes verfrühte „selbstgefällige Siegesgekläffe“ der „Herren Demokraten“, das Marx schon in seinem 18. Brumaire als das sichere und untrügliche Zeichen einer nahen eklatanten Blamage der Revolution bezeichnete,[2] bildet die ständige Erscheinung aller modernen Revolutionen und ist natürlich auch in dem gegenwärtigen Augenblick – angesichts der Kunde vom neuesten Zarenmanifest[3] – nicht ausgeblieben. Unser deutscher Liberalismus tut ja seit langem bei revolutionären Bewegungen daheim wie im Auslande nicht mit, desto eifriger betätigt er sich in der Rolle des „selbstbewußten Siegeskläffers“, der als seine dringendste Aufgabe betrachtet: die Kämpfenden bei jeder halbwegs passenden Gelegenheit zum Glauben, zur Liebe und zur Hoffnung und vor allem – zum Abrüsten zu ermahnen. Selbstredend darf dabei ein „Mann“ nicht fehlen, auf den all dies Hoffen und Harren von nun an zu konzentrieren sei, ein Mann, der schon alles ins Lot bringen, die Freiheit gewähren, die Ordnung wiederherstellen werde, der aber zu seinen Wunderwerken selbstverständlich vor allem – der Ruhe im Lande bedürfe! Witte und Ruhe!,[4] das ist heute die politische Zauberformel des deutschen Liberalismus, mit der er die brandenden Wogen der Revolution beschwören will.

„Rußland braucht jetzt vor allem Ruhe!“ ruft das liberale Mosse-Blatt[5] und ermahnt die „ordnungsliebenden“ Elemente Rußlands zur Mundtotmachung der unbequemen „republikanischen Terroristen“, will sagen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft.

„Rußland braucht vor allem Ruhe!“ erklärt auch der frischgebackene Premier des Zaren einer Deputation der Petersburger Presse und bildet in aller Eile ein neues Regierungskabinett aus alten Knutenministern und neuen „liberalen“ Prätendenten zu diesem Amte.

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Nach Rosa Luxemburgs Brief an Leo Jogiches vom 1. November 1905 ist sie die Verfasserin, siehe GB, Bd. 2, S. 228. In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 361 verzeichnet.

[2] Siehe Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW, Bd. 8, S. 119.

[3] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.

[4] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.

[5] Gemeint ist das „Berliner Tageblatt“, das vom Zeitungsverleger Mosse herausgegeben wurde und der Freisinnigen Vereinigung politisch und personell nahestand.