Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 703

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Die Revolution in Rußland

[1]

Das Signum der jüngsten Tage der Revolutionsgeschichte bilden die Nachrichten über Bauernunruhen. Noch kommen sie spärlich und vereinzelt, noch sind sie auf die zentrale Zone des Zarenreiches: die Gouvernements Kursk, Smolensk, Saratow beschränkt. Doch sind das bloß die Vorläufer eines allgemeinen Ausbruchs der Bauernrevolten, die, ständig zunehmend, schließlich wie ein furchtbares Erdbeben das gesamte Reich erschüttern werden. Es ist seit jeher der eigentümliche Zug der russischen Agrarbewegungen, daß sie, wenn einmal der Anfang gemacht ist, bald einen epidemischen Charakter annehmen und trotz grausamster Repressivmaßregeln sich rasch zu enormen Dimensionen auswachsen. Die letzten großen Bauernunruhen datieren noch aus der Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch der jetzigen Revolutionsperiode.[2] Ihren Höhepunkt bildete damals die gewaltige Revolte im Gouvernement Rjasan, die durch den Fürsten Obolenski mit bestialischer Brutalität militärisch erdrückt wurde.[3] Es war dies noch unter dem Plehwe-Kurs,[4] als die kosakische Grausamkeit des Zarenregiments noch ungehindert ihre Orgien feiern zu können glaubte. Gleich darauf brach das Gewitter los. Doch statt ein Signal für eine unmittelbare Explosion allgemeiner Bauernunruhen zu werden, beschränkte sich die Revolutionsbewegung ausschließlich auf das städtische Proletariat. Die bisherige grandiose revolutionäre Aktion der Massen in Rußland ist das ausschließliche Werk der industriellen Arbeiterklasse, was schon äußerlich in der Tatsache zum Ausdruck kommt, daß der Generalstreik die vorherrschende Form des Kampfes ist. Als nächster Reflex der Arbeiterbewegung trat sodann die Rebellion im Heere auf den Plan: die Revolte des „Potjomkin“[5], die Erhebung in Kronstadt und Wladiwostok,[6] das Schwanken und die Desorganisation in den Landtruppen. Und nun erst, als dritter im Bunde, zieht allmählich das drohende Gewitter der Bauernerhebung herauf.[7]

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Von März bis Mai 1902 waren z. B. in den Gouvernements Woronesh, Kutais, Poltawa und Charkow Bauernunruhen aufgeflammt, die mit Waffengewalt unterdrückt wurden.

[3] Auf den Gouverneur Iwan Obolenski war am 11. August 1902 ein Attentat verübt worden.

[4] Wjatscheslaw Plehwe war seit April 1902 russischer Innenminister und als schroffer Gegner liberaler Bestrebungen am 28. Juli 1904 Opfer eines Attentats des Sozialrevolutionärs Jegor Sasonow geworden.

[5] Der Matrosenaufstand auf dem Panzerkreuzer „Potjomkin“ am 27. Juni 1905 war die erste revolutionäre Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte.

[6] Siehe Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland. In: GW, Bd. 6, S. 688; dies.: Die Wahrheit über Kronstadt. In: ebenda, S. 691 ff. Der Matrosenaufstand in Wladiwostok ereignete sich am 12. und 13. November 1905 und wurde von zaristischen Truppen niedergeschlagen, siehe dies.: Die Revolution in Rußland. In: ebenda, S. 702.

[7] Das nie dagewesene Ausmaß der Bauernbewegung 1905 zeigte sich im Oktober in 219, im November in 796 und im Dezember in 575 Bauernerhebungen.