Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 111

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Sozialdemokratische Bewegung in den litauischen Gouvernements Rußlands

[1]

(Verhaftungen – Streiks – Geschichte – Gewerkschaften – Maifeier – Parteiblatt)[2]

Aus Wilno meldet man wieder Verhaftungen. Die Polizei kann sich seit dem geheimnisvollen Tode des Spitzels Raphal, der Mitte April mit einer tödlichen Wunde in der Brust aufgefunden wurde, nicht beruhigen und geht blindlings auf die litauische Sozialdemokratie los, ohne jeden Grund Arbeiter und Personen aus der sog. Intelligenz in Haft nehmend.

Die Bewegung schreitet aber – durch die Streiche der Polizei unerschüttert – ruhig ihren Weg. Es sind wieder eine Reihe Streiks zu verzeichnen. Am 12. Mai streikten die Schuhmacher in der Werkstatt von Kahl, am 14. Mai die Schuhmacher bei Malewski – in beiden Fällen mit Erfolg. Am 20. Mai legten 80 Maurer beim Bau eines Hauses die Arbeit nieder. Der Zweck war, wie in den beiden früheren Fällen, eine Lohnerhöhung, die auch durchgesetzt wurde. Am 9. Juni traten die Gerber der Firma Meki in den Streik. Die Ursache war diesmal – eine grundlose Entlassung eines der Arbeiter. Um den Herren Unternehmern die Lust zur Maßregelung ihnen unliebsamer Arbeiter auszutreiben, legten alle Kollegen des Entlassenen die Arbeit nieder. Ende Juni wendete sich der Unternehmer, wie dies in Rußland Brauch ist, – an die Polizei. Der Gendarmeriechef Wassiljew that in bons et mauvais offices sein Möglichstes – umsonst. Die Arbeiter wollten die einmal in Fluß gebrachte Bewegung auch zu einer Lohnerhöhung benutzen. Die Gerber der Firma Ryfkin schlossen sich im Juli den Streikenden an und vor zwei Wochen war in Vorbereitung ein allgemeiner Gerberstreik (500 Arbeiter) in Wilno.

Zur Orientierung des deutschen Lesers bemerken wir, daß die obigen Nachrichten sich ausschließlich auf die in polnischer Sprache unter christlichen Arbeitern Litauens agierende Sozialdemokratie beziehen. In Litauen existiert nämlich seit mehr als zehn Jahren auch eine sozialdemokratische Bewegung unter den jüdischen Arbeitern, die fast ausschließlich von russischer Intelligenz in russischer oder jüdischer Sprache geleitet wird. Ganz unabhängig davon entstand aber Anfang der 90er Jahre eine sozialistische Bewegung unter den bis dahin vernachlässigten christlichen polnischen Ar

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[1] * Ein im Westen Rußlands liegender Länderstrich.

[2] Der Artikel erschien anonym. Rosa Luxemburgs Autorschaft ergibt sich aus Dokumenten über den Kontakt und Konflikt zwischen ihr und dem ausländischen Vertreter der Litauischen Sozialdemokratischen Partei (LSDP) Alfonsas Moravskis (polnische Schreibweise Alfons Morawski, Pseudonym Koczan). Siehe Aru¯nas Vysˇniauskas: Ein unbekannter Artikel von Rosa Luxemburg. In: Rosa Luxemburg im internationalen Diskurs, S. 97 ff.