Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 837

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Die Revolution in Rußland

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Der Generalstreik beginnt!

Moskau, 20. Dezember. Das soziale Leben stockt infolge des allgemeinen Ausstandes. Der Betrieb der elektrischen Straßenbahn ist eingestellt. Die oberen Bürobeamten des Gemeinderates und des Semstwos legten heute Mittag die Arbeit nieder. In einer Anzahl größerer Fabriken ist der Betrieb eingestellt; 50000 Arbeiter feiern. In keiner Druckerei wird gearbeitet, morgen erscheinen keine Zeitungen. Morgen werden auch die meisten Schulen geschlossen und die Schüler bereits in die Weihnachtsferien entlassen werden. Die Weinverkaufsstellen sind geschlossen. Die Vereinigung der Ingenieure ist dem Ausstande beigetreten. Die Bankangestellten werden wahrscheinlich morgen in den Ausstand treten. Da die elektrischen Zentralstationen nicht arbeiten, ist die Stadt ohne Beleuchtung. Theater und Klubs sind geschlossen. In den Postbüros mußte der Betrieb infolge mangelnder Beleuchtung abends eingestellt werden; ein Kongreß der Post- und Telegraphenbeamten beschloß, sich dem allgemeinen Ausstande anzuschließen. Viele Läden wurden bereits mittags geschlossen, andere mußten abends, als die elektrische Beleuchtung ausblieb, geschlossen werden.

Heute nacht wurden viele Führer der Arbeiter und Arbeiterdeputierte verhaftet. Versammlungen von Ausständigen wurden durch Kosaken auseinandergetrieben.

Die Drucker der Druckerei von Sytin, dem Verleger des „Russkoje Slowo“ [Das Russische Wort], nahmen heute Sytin und die Redakteure des „Slowo“ fest und stellten in der Druckerei die erste Nummer der Zeitung des Arbeiterdeputiertenrates her, welche einen Aufruf an das Volk enthält, die bewaffnete Revolution zu organisieren. Das sozialdemokratische Blatt „Borba“ [Der Kampf], das einen revolutionären Aufruf enthielt, ist beschlagnahmt worden. Die hiesigen Vertreter des Verbandes der Verbände beschlossen, sich dem Ausstande anzuschließen, um die Revolution des Proletariats zu unterstützen.

Petersburg, 20. Dezember. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Das Streikkomitee der Beamten der Nikolausbahn hat beschlossen, morgen mittag den Ausstand zu erklären.

Warschau, 21. Dezember. Das Komitee der Petersburger Eisenbahner hat den Warschauer Eisenbahnern die Mitteilung zugehen lassen, daß der Ausstand heute um Mitter-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.