Rückblick
[1]„Nicht jede Prinzenreise[2] ist eine Odyssee“, sagt Georg Herwegh,[3] und, fügen wir hinzu, jede Präsidentenreise ist es auch nicht. Der hausbackene Loubet gleicht auf seiner Rußlandfahrt viel eher einem politischen Commis voyageur [Handlungsreisender] als der vielgewandten Odyssee, und macht am Zarenhof entschieden eine komische Figur, vielleicht auch eine tragikomische. Dessen wird man sich so recht bewußt, wenn man angesichts der russisch-französischen Allianz, bei der musikalische Kosaken die Marseillaise und russifizierte Franzosen die Zarenhymne spielen, an das berüchtigte Testament Peters des Großen[4] denkt, jenes merkwürdige Aktenstück, das schon der Gegenstand von so vielen Diskussionen gewesen ist.
Ob dies[es] Aktenstück „echt“ ist oder nicht, darauf kommt es jedenfalls heute nicht mehr an; so viel auch darüber gestritten worden ist. Peter der „Große“, dieser blut- und schnapstriefende Barbar, mag ein solches Aktenstück nicht hinterlassen haben; Tatsache ist aber, daß seine Zukunftspläne sich in gleicher Richtung bewegten wie die Gedanken des „Testaments“. Gewöhnlich wird angenommen, der erste Napoleon habe dies Testament ausgedacht und es 1812 durch den Schriftsteller Lesur veröffentlichen lassen. Wenn sich das so verhält, so macht das dem Scharfsinn und dem vorschauenden Blick Napoleons alle Ehre. Man begreift aber nicht, warum er dann trotzdem 1812 in Rußland die russischen Bauern abwies, die sich ihm anschließen und die Romanows vertreiben helfen wollten, falls Napoleon dafür die Leibeigenschaft abschaffen würde. Er wies aber die russischen Bauern als „Rebellen“ brüsk ab[5] und machte sie zu seinen Feinden. Der Cäsarenwahnsinn hatte wohl momentan seinen Blick getrübt. Wäre er auf die Vorschläge der Bauern eingegangen, dann hatte die letzte Stunde der Herrschaft der Romanows geschlagen.
[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.
[2] Im Text Rosa Luxemburgs: Fürstenreise.
[3] Georg Herwegh: An den Verstorbenen (1841). Aus den Gedichten eines Lebendigen. Erster Band. In: Herweghs Werke in einem Band, Berlin und Weimar 1967, S. 17.
[4] Das Testament Peters des Großen war ein gefälschtes Schriftstück, das westeuropäische Politiker und Publizisten in ihrer Propaganda gegen Rußland benutzten. Bereits 1797 wurde in Westeuropa behauptet, daß ein solches „Testament“ vorhanden sei; 1812 legte der Franzose Lesur in dem Buch „Des progrès de la puissance russe, depuis son origine jusqu’au commencement du XIX. siècle“ den Inhalt dieses angeblichen Testaments dar, und 1836 gab Gaillardet in seinem Buch „Mémoires du chevalier d’Eon“ dieser Fälschung die Form eines Dokuments.
[5] In der Quelle: ließ … an.