Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 824

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Die Revolution in Rußland

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Der Kampf der russischen Postsklaven um das Koalitionsrecht

Eine der markantesten Erscheinungen der jetzigen Revolution in Rußland ist der beispiellose, bewundernswerte Generalstreik der Post- und Telegraphenbeamten. Auch hier liegt dem Kampfe ein Drang zunächst nach ökonomischer Befreiung, ein Protest gegen die furchtbare Ausbeutung des kleinen Beamten zugrunde. Aber gerade dadurch bekommt das politische Ringen, das der Auflehnung gegen das Ausbeutungssystem entsprossen ist, einen so kräftigen Halt, eine so unüberwindliche revolutionäre Kraft. Der Kampf der russischen Postsklaven um das Koalitionsrecht ist seinem Charakter nach eine Teilerscheinung des allgemeinen proletarischen Klassenkampfes.

Man schreibt uns darüber im folgenden Briefe Näheres aus der Hauptstadt des Zarenreiches: Petersburg, 15. Dezember. (Eig. Ber.) Um die Triebfeder der jetzigen allgemeinen Auflehnung der Post- und Telegraphenbeamten zu verstehen, ist es vor allem notwendig, den rein fiskalischen Charakter hervorzuheben, der seit jeher im russischen Postwesen herrschte. Das Postwesen, dieser große Kulturfaktor des geistigen und ökonomischen Fortschritts, wird einfach als ein Pumpwerk betrachtet, das die nimmersatte Reichskasse zu füllen hat. Dafür nur einige Beweise: Während in den Vereinigten Staaten Amerikas das Post- und Telegraphenwesen bis in die letzte Zeit hinein der Union nur finanzielle Verluste brachte, die im Jahre 1894 z. B. die Höhe von 17,6 Millionen Dollar, im Jahre 1897 11,4 Millionen Dollar erreichten, brachte das Postwesen in Rußland, wo auf einen Einwohner nur der 20. Teil der Postsendungen der Vereinigten Staaten entfällt, schon im Jahre 1884 eine Einnahme von 4,4 Millionen Rubel, die fortwährend stieg und im Jahre 1903 die Summe von 19,1 Millionen Rubel erreichte. Sämtliche Einnahmen Rußlands aus dem Post- und Telegraphenwesen betrugen im Jahre 1903 58,2 Millionen Rubel. So hat die Postverwaltung bei Betriebskosten von 39,1 Millionen Rubel einen „Reingewinn“ von 19,1 Millionen Rubel, d. h. ungefähr 50 Prozent vom Kapital!!

Diese wucherischen Reingewinne aus dem Postwesen werden ausschließlich durch die unglaubliche Ausbeutung der Post- und Telegraphenbeamten, namentlich der kleinen Beamten ermöglicht. Während z. B. in den Vereinigten Staaten 71000 Postanstalten existieren, hat Rußland bei einer Bevölkerung, die dreimal größer ist, deren

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 383 verzeichnet.