Die Revolution in Rußland
[1]Der Kampf lodert von neuem auf!
Die Verhängung des Belagerungszustandes über Polen, die den Zweck hatte, unter dem lügenhaften Vorwande einer nationalen Bewegung die Elitetruppe der jetzigen Revolution im Zarenreiche, das klassenbewußte polnische Proletariat, lahmzulegen und durch die ungleiche Behandlung von dem russischen Proletariat zu isolieren, hat das umgekehrte Resultat erzeugt: Der Kampf bricht in voller Einmütigkeit und brüderlicher Solidarität sowohl in Polen wie in Petersburg mit erneuter Vehemenz aus!
Die Depeschen melden: Petersburg, 15. November. Die hiesigen Blätter veröffentlichen einen gestern gefaßten Beschluß des Rates der Arbeiterdeputierten Petersburgs, nach welchem zum Zeichen der Solidarität mit den Kronstädter Meuterern und dem revolutionären Polenproletariat heute Mittag 12 Uhr ein allgemeiner politischer Ausstand begonnen werden soll mit der revolutionären Losung: Fort mit dem Kriegsgericht, der Todesstrafe und dem Kriegszustande in Polen und im ganzen Reiche.
Petersburg, 15. November. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Heute Mittag 12 Uhr ist der Verkehr auf der Warschauer und auf der Baltischen Bahn wegen des erneut ausgebrochenen Generalausstandes eingestellt worden. Der Schnellzug nach Eydtkuhnen ist nicht abgegangen.
Petersburg, 15. November. (B. H.)[2] Die Maßregeln, welche die Regierung gegenüber Polen getroffen hat, rufen in der Bevölkerung die größte Erregung hervor. Die meisten Blätter veröffentlichen scharfe Protestkundgebungen und sind der Ansicht, daß ernste Ereignisse die Folge sein würden.
Warschau, 14. November. (Privattelegramm des „Vorwärts“.) Die Sozialdemokratie erklärt die Fortsetzung des Generalstreiks um jeden Preis als Antwort auf die Verhängung des Kriegszustandes.
Warschau, 15. November. (B. H.) 500 Bankangestellte hielten gestern in der Börse eine Versammlung ab, in welcher beschlossen wurde, den Ausstand fortzusetzen. – Die Leitung der Gasanstalt teilt mit, daß es bald an Kohlen mangeln werde und daß infolgedessen binnen kurzem die Herstellung von Leuchtgas werde unterbleiben müssen. – In der Stadt dauern die Unruhen fort.
[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.
[2] Vermutlich Büro Hirsch, Presseagentur.