Antonio Labriola über Bernstein
[1]Einer der hervorragendsten marxistischen Theoretiker in Italien, Professor Antonio Labriola in Rom, äußert sich in dem Maihefte der französischen Zeitschrift: „Le Mouvement Socialiste“ (Die sozialistische Bewegung) über das Bernsteinsche Buch[2] und seine Bedeutung für die Arbeiterbewegung verschiedener Länder in einer Zuschrift, die auch für unsere Leser gewiß von Interesse sein wird.
„Das Buch von Bernstein“, schreibt Labriola an die Redaktion, „über das Sie meine Meinung wissen wollen, habe ich eben erst zu Ende gelesen und, um die Wahrheit zu sagen, ich las es nur sehr schnell und viel mehr für mich, als um darüber zu schreiben. Ich hatte desgleichen noch keine Zeit, die zahlreichen polemischen Artikel, die in Beantwortung dieses Buches geschrieben worden sind, und namentlich die Artikel von Kautsky, Adler, Parvus und Rosa Luxemburg, mit gebührender Aufmerksamkeit zu lesen.
Wenn man die Frage vom Standpunkte der deutschen Sozialdemokratie ins Auge faßt – und darauf kommt es, wie ich Ihnen am 21. Dezember v. J. schrieb, vor allem an – so glaube ich, daß sich um die Ideen und den Namen Bernsteins keine neue Richtung, keine neue Bewegung bilden wird, und daß diese Partei, die über so viele Hindernisse und so viele Schwierigkeiten siegreich hinwegging, auch aus dieser Diskussion nur gestärkt und mit noch klarerer Einsicht in ihre Ziele hervorgehen wird. Das, was man pomphaft die Krise des Marxismus nennt, kann nach mir, vom praktischen Gesichtspunkte im Allgemeinen wie vom politischen im Besonderen, nur für Deutschland von Bedeutung sein, weil nur in Deutschland sich die gegenseitige Durchdringung und fast gänzliche Verschmelzung der sozialistischen Arbeiterbewegung und des Marxismus vollzogen hat. Und dies ist der Grund, weshalb die Diskussion über das Bernsteinsche Buch fast ausschließlich die Deutschen angeht.
Es fällt mir schwer, vor allem als einem Ausländer, zu verstehen, welchen Widerhall diese Debatte über die Grundsätze des Sozialismus in Frankreich haben könnte,
[1] In Le Mouvement Socialiste, Nr. 8 vom 1. Mai 1899 war der Artikel von Antonio Labriola „A propos du Livre de Bernstein“ („Aus Anlaß des Buches von Bernstein“) erschienen. Nach Bemerkungen in Briefen vom 8. und 11. Mai 1899 an Leo Jogiches erhielt Rosa Luxemburg von Adolf Warski den Hinweis auf Labriolas Artikel, ließ sich die Zeitschrift senden, übersetzte den Artikel und sandte ihn mit der Einleitung und einem Kommentar am Schluß als Leitartikel an die Leipziger Volkszeitung, siehe GB, Bd. 1, S. 328 ff.
[2] Das Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ von Eduard Bernstein war im Januar 1899 erschienen.