Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 828

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Vor der Entscheidungsschlacht

[1]

Die Situation im Reiche der Revolution ist sehr ernst. Die Reaktion holt zu einem letzten Gewaltstreich aus, indem sie das ruhige und tiefernste schöpferische Werk der Revolution gewaltsam zu unterbrechen und dem Proletariat die Schlacht zu liefern sucht, bevor es selbst den für sich günstigen Moment wählt. Die Arbeiterklasse und die um ihren Kampf gruppierten Volksklassen: das Militär, die Marinemannschaften, die kleinen Staatsbeamten, die sogenannten liberalen Berufe – alles ist mit Feuereifer in der Arbeit der Organisation begriffen. Berufliche Organisationen, politische Organisationen keimen und sprossen aus dem im Feuer der Revolution aufgetauten Eisboden des Zarenreichs, wie Grashalme im Frühling. Aufklärungsarbeit, Organisation – das sind die zwei Aufgaben, oder vielmehr die eine Aufgabe, die alle revolutionären Kräfte in den letzten Wochen verschlingt. Die Früchte dieser edelsten geschichtlichen Kulturarbeit abwarten, das arbeitende Volk sich erst die unüberwindliche Rüstung der Organisation geben lassen, das will aber die verzweifelte Kamarilla des untergehenden Zarenthrons nicht. Und da der im ganzen Lande organisierte Kreuzzug der „Schwarzen Hunderte“,[2] des Lumpenproletariats, im letzten Ende versagt hat, da aus der vom Absolutismus angestifteten Verwirrung und Anarchie immer und immer wieder der revolutionäre Gedanke und die revolutionäre Organisation – auch im Militär – siegreich hervorgegangen sind, so drängt die Konterrevolution jetzt zum Blutbad und zur Militärdiktatur.

In diesem verantwortungsvollen Moment ist es wichtig, die Stimme derjenigen Partei zu hören, die an der Spitze der Ereignisse in Rußland steht und die Leitung in ihren Händen inne hat. Das „Natschalo“ [Der Anfang], eines der beiden offiziellen Petersburger Organe unserer russischen Bruderpartei, bringt folgenden Leitartikel über die jetzige Situation in Rußland:[3]

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[1] Dieser Artikel ist nicht gezeichnet, er gehört zu den Leitartikeln der Chefredakteurin des „Vorwärts“. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. – In der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), ist er unter Nr. 384 ausgewiesen.)

[2] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.

[3] „Natschalo“ (Der Anfang), von Alexander Parvus, Juli Martow und Leo Trotzki gegründet, sei, wie Isaac Deutscher in „Trotzki, I Der bewaffnete Prophet 1879–1921“, Stuttgart 1962, S. 140, schreibt, de facto die Zeitung Trotzkis gewesen. Der hier verwertete Leitartikel aus „Natschalo“ dürfte folglich von Trotzki sein. Siehe Bernd Florath: „Es ist eine Lust zu leben!“ Rosa Luxemburg als Redakteurin des sozialdemokratischen Vorwärts über die russische Revolution 1905. In: Lesarten marxistischer Theorie mit Beiträgen über Anton Ackermann, Otto Bauer, Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg, Georg Plechanow, zusammengestellt v. Wladislaw Hedeler, hrsg. von „Helle Panke“, Berlin 1996, S. 44 ff.