Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 364

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Die Arbeiterklasse und ihre bürgerlichen Freunde. Rede am 17. April 1902 in einer Parteiversammlung des 12. und 13. sächsischen Reichstagswahlkreises im Pantheon in Leipzig

Nach einem Zeitungsbericht

Wir wohnen gegenwärtig einem eigenartigen Schauspiel bei, denn noch nie habe der Arbeiter so viele eifrige und warme Freunde in den bürgerlichen Klassen gehabt als heute. Es gebe keinen Staatsmann, der der Arbeiterklasse nicht sein Wohlwollen ausgedrückt hätte. Ähnlich auch die bürgerlichen Parteien. Alle haben ein sogenanntes sozialpolitisches Programm, womit den Arbeitern geholfen werden soll. Dazu kommt noch eine Anzahl Professoren mit den mannigfaltigsten Vorschlägen. Trotz der Verschiedenartigkeit der Programme haben sie das gemeinsame Bestreben, die Arbeiterklasse von der Sozialdemokratie zu befreien. Die einen wollen dies mittels Zuchthausgesetze[1] und sonstigen Zerschmetterns vollbringen, während andere den Weg der Modernisierung und Zivilisierung der ungeschlachten Sozialdemokratie für zweckmäßig halten. Diese interessanten Erscheinungen kann nur die Geschichte der bürgerlichen Sozialreform erklären. Die ganze bürgerliche Sozialreform ist ein Angstprodukt der Bourgeoisie. Mit dem Anbrechen der kapitalistischen Produktionsweise in England stand man auf dem Standpunkt des vollen Gehenlassens. Kaum ein paar Jahrzehnte danach zeigten sich die Schattenseiten der kapitalistischen Wirtschaft in Gestalt von Krankheiten, Entartung, und wohl oder übel mußte mit dieser Theorie gebrochen werden. Die einsichtigeren Staatsmänner sahen ein, daß auf dem bisher beschrittenen Wege die Gesellschaft dem Untergang geweiht war. Daraufhin wurden die ersten Arbeiterschutzgesetze geschaffen. Das Manchestertum wurde verabschiedet. In den späteren Zeiten, besonders um die vierziger Jahre, wurde die bürgerliche Gesellschaft von einer anderen Angst erfaßt; das rote Gespenst tauchte auf. Um diesem wirksam zu begegnen, gelangten die Regierenden und Herrschenden allmählich zur Einsicht, daß nun wieder soziale Reformen, wenn auch nur zum Scheine, eingeführt werden müßten. Das, was Bismarck in den siebziger Jahren in Deutschland zur Anwendung brachte, soziale Reformen Hand in Hand mit Unterdrückungsmaßregeln, das hatte Napoleon in Frankreich in den 50er und 60er Jahren schon versucht. Auch die bürgerlichen Parteien sahen seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts ein, daß die Sozialdemokratie sehr bald die ganze proletarische Wählerschaft auf ihre

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[1] Gemeint ist der Versuch der Regierung, mit einem Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“ vom 20. Juni 1899 gegen die zunehmende Streikbewegung anzukommen und de facto das Koalitions- und Streikrecht der Arbeiter zu beseitigen. Die „Zuchthausvorlage“ wurde gegen die Stimmen der Konservativen am 20. November abgelehnt.