Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 156

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Aus Frankreich (Dreyfus. – Von dem Manöverfeld.)

[1]

Gegenüber den hartnäckigen Behauptungen der Presse des Generalstabes, die Regierung sei nach wie vor von der Schuld Dreyfus’ und von der Unmöglichkeit der Revision überzeugt, erklärt eine offizielle Note des Justizministeriums, die obige Behauptung sei aus der Luft gegriffen. – Der Oberst Henry war, wie es sich herausstellt, nicht bloß Fälscher, sondern auch Gauner. Der „Siècle“ erzählt mit Einzelheiten, daß Henry für sein „Dokument“ eine bedeutende Summe gefordert und erhalten habe, um – wie er damals behauptete – den Agenten, der ihm das Schriftstück verschafft hatte, zu belohnen. Jetzt weiß man aber, daß das kostbare Dokument nur ein wenig Tinte gekostet hat, die Geldsumme wanderte also voraussichtlich in die patriotischen Taschen des Obersten Henry selbst. – Trotz der nahenden Revision des Dreyfus-Prozesses fährt die französische Regierung fort, das unschuldige Opfer durch kleinliche und brutale Verfolgungen zu martern. Neulich wurde der Frau Dreyfus verboten, ihrem Manne die Photographie seines fünfjährigen Kindes, das er noch in der Wiege verlassen hat, zu schicken! Esterhazy ist, wie allgemein behauptet wird, in England. –

In den letzten Tagen wurden trotz der tropischen Hitze wieder große Armeeübungen veranstaltet; die Zahl der Opfer, die dem Hitzschlag und der Müdigkeit erlagen, ist erschreckend.

Die Dreyfus-Affäre[2]

Nun hat man endlich auch den Oberstleutnant du Paty de Clam fallen gelassen, der Spießgeselle des Lumpen Esterhazy. In dem gestern Nachmittag im Élysée-Palaste abgehaltenen Ministerrate wurde du Paty de Clam in Nichtaktivität versetzt. Dies bedeutet die Entlassung mit Pension. Diese Disziplinarmaßregel gegen du Paty wurde infolge der Untersuchung ergriffen, welche beim Generalstab der Armee über die Handlungen du Patys im Laufe des Prozesses Esterhazy angestellt wurden. Der Kriegsminister hat diese Maßregel beantragt. Der Schurke ist allerdings gelinde davon gekommen.

Wie ferner aus Paris gemeldet wird, erklärte der Kriegsminister Zurlinden in der Unterredung mit Brisson und Sarrien, daß die Revision des Dreyfus-Prozesses un

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[1] Dieser Artikel ist mit II, einem von Rosa Luxemburgs Zeichen, versehen. An Leo Jogiches hatte Rosa Luxemburg am 10. Juli 1898 geschrieben: „Mit Parvus [Redakteur der SAZ] habe ich die Beziehungen aufs beste hergestellt: Ich schreibe solche Notizen für ihn, wie Du sie dort hast, über Polen, Frankreich und Belgien. Sie geben mir 30 M im Quartal für das Zeitschriftenabonnement! Natürlich neben dem Honorar.“ Bei Gelegenheit wünsche er solche Notizen auch über England, Italien und die Türkei. Siehe GB, Bd. 1, S. 171.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.