Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 507

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Aus dem Marxschen Buche

[1]

Theorien über den Mehrwert

Die große Masse der Proletarier, auch der bereits von der Sozialdemokratie zum Klassenbewußtsein erzogenen, ist leider nicht in der Lage, von Werken, wie das neue Marxsche Buch,[2]* unmittelbar zu profitieren. Dafür sorgt schon die kapitalistische Ausbeutung, die ihren Anteil an dem „gesellschaftlichen Reichtum“ tief genug herabdrückt, damit jede Aufwendung für das Kulturleben und für die geistige Nahrung des Arbeiters nur auf Kosten seiner und seiner Kinder bloßen leiblichen Nahrung geschehen könne. Dafür sorgt auch der kapitalistische Staat, die bürgerliche „Volksaufklärung“, die der großen Masse der Arbeitenden den Zutritt zu den Kulturschätzen, zur Gedankenwerkstatt des Fortschritts verwehrt und die nötige Vorbildung zu ihrem Genusse planmäßig vorenthält. Es liegt einer der bittersten und am meisten aufstachelnden Widersprüche der heutigen Ordnung darin, daß auch die Früchte der geistigen Produktion der Gesellschaft in ihrer Warenform materiell nur den herrschenden Klassen zugänglich sind, für die sie, wie auf dem ganzen Gebiete der Sozialwissenschaften, gegenwärtig ein toter Schatz sind, während die von der Geschichte zum Wissen und Verstehen bestimmten Proletarier, diese „Erben der klassischen Philosophie“ wie der gesamten sozialen Wissenschaften nur durch das Schaufenster wissensdurstig in die Buchhändlerläden blicken dürfen.

Das neue Marxsche Buch erfordert zu seinem Verständnis allerdings eine bedeutende nationalökonomische Vorbildung. Freilich schreibt Marx hier wie immer sehr klar und verständlich, er hat es nicht nötig, wie die meisten deutschen Professoren der Nationalökonomie, hinter großspurigem und dunklem mystifizierenden Geschwätz die eigene Gedankenarmut zu verstecken. Die Logik der Marxschen Beweisführungen, der Gedankengang seiner Darlegungen sind von kristallener Durchsichtigkeit und eiserner Konsequenz zugleich. Allein das Buch, das eine kritische Geschichte der bürgerlichen Nationalökonomie gibt, setzt naturgemäß beim Leser sowohl die Kenntnis

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[1] Die Autorschaft Rosa Luxemburgs wird mit ihrem Signum R. L. am Ende des Teiles II des Artikels in Nr. 73 des Vorwärts vom 26. März 1905 bestätigt, der als Fortsetzung ihres Artikels in Nr. 24 vom 28. Januar 1905 gekennzeichnet ist.

[2] * Redaktionelle Anmerkung im Vorwärts: Theorien über den Mehrwert. Aus dem nachgelassenen Manuskript „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx, herausgegeben von Karl Kautsky. I. Teil: Die Anfänge der Theorie vom Mehrwert bis Adam Smith. Verlag von J. H. W. Dietz Nachf., Stuttgart [1905]. Preis 5,50 Mark, gebunden 6 Mark. [Im folgenden: Kautsky-Ausgabe, Bd. 1.]