Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 74

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/74

1895

Polnische Sozialdemokratie und Nationalität (Erwiderung)

In Nr. 5 der „Arbeiterstimme“ versucht ein Genosse, die Notwendigkeit und Nützlichkeit der Sonderorganisation der polnischen Sozialisten in Deutschland zu beweisen, zum Zwecke der Aufklärung derjenigen – sehr zahlreichen – deutschen Genossen, die „das Vorgehen der polnischen Sozialisten nicht begreifen können“.[1]

Es dürfte nun für die Leser der „Arbeiterstimme“ nicht ohne Interesse sein zu erfahren, daß es auch polnische Sozialdemokraten gibt, die der genannten Sonderorganisation durchaus zweifelnd gegenüberstehen.

Für die Berechtigung der Sonderorganisation werden gewöhnlich, wie dies auch von Seiten des Verfassers des erwähnten Artikels geschieht, zwei Argumente ins Feld geführt: Erstens die Notwendigkeit, gegen die Unterdrückung der polnischen Nationalität zu kämpfen, und zweitens die Notwendigkeit, der verleumderischen Behauptung der polnischen Bourgeoisie, die polnischen Sozialisten seien „bezahlte Handlanger der deutschen Sozialdemokratie“, jeden Anhaltspunkt zu nehmen.

Sehen wir uns die beiden Argumente etwas näher an.

Es heißt, die Sozialisten Preußisch-Polens müssen „auf reellem Boden stehen“ und daher gegen die nationale Unterdrückung kämpfen. Das könne aber eine Partei nur dann mit Erfolg tun, „wenn sie selbständig ist“.

Nun muß man fragen: Sind denn das Stehen auf reellem Boden und die Zugehörigkeit zur deutschen Gesamtpartei für die polnischen Sozialisten einander ausschließende Begriffe? Und was hat überhaupt die Selbständigkeit – ein an und für sich sehr hübsches Ding – in diesem Fall mit dem erfolgreichen Kampf für die Sprachfreiheit zu tun? Die deutsche Sozialdemokratie kämpft, ebenso wie alle andern sozialdemokratischen Parteien, gegen die Unterdrückung in allen ihren Formen, also auch gegen die Nationalitätsunterdrückung.

Nächste Seite »



[1] Siehe „Polnische Sozialdemokratie und Nationalität“, gez. „Ein polnischer Arbeiter“, in „Arbeiterstimme“ (Zürich), Nr. 5 vom 16. Januar 1895. – Am 10. September 1893 hatte sich die 1890 gegründete Vereinigung polnischer Sozialisten unter Führung von Franciszek Morawski und Franciszek Merkowski mit anderen polnischen sozialistischen Gruppen zur Polska Partia Socjalistyczna (PPS – Polnische Sozialistische Partei) des von Preußen annektierten Teiles von Polen konstituiert. Sie blieb bis 1903 autonomer Bestandteil der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.