Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 399

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Der neue Glaube

[1]

Der erste Mai führt das Proletariat aller Länder hinaus aus der trutzigen[2] Enge der nationalen Grenzwälle, hinter der es das ganze Jahr hindurch, jedes Volk in seinem Teil und nach seiner Art, seinen welthistorischen Kampf führt, auf die breite Heerstraße internationaler Verbrüderung. Dieser Tag soll aber zugleich das Proletariat hinaufführen auf die hohe Plattform universeller Weltanschauung, von der aus es nicht nur als Klasse seinen eigenen Weg in Vergangenheit und Zukunft im Lichte geschichtlicher Notwendigkeit begreift, sondern auch die trunkenen Blicke ausschweifen läßt nach jenen Fernen, bis zu deren Grenzen der denkende Forschungstrieb und die dichtende Phantasie des Menschengeistes zu allen Zeiten vorgedrungen und von denen der Menschheit bis heute so widersprechende Kunde geworden ist. An diesem Tage soll es dem Proletariat nachdrücklich zum Bewußtsein gebracht werden, daß es nicht bloß eine politische, nicht bloß eine gesellschaftliche, sondern auch eine geistige Mission hat, daß die Arbeiterklasse nach dem Wort ihrer großen Vorkämpfer die Erbin der deutschen Philosophie ist, daß sie Trägerin eines neuen weltumspannenden Glaubens ist, daß der Sozialismus nicht nur eine neue Weltordnung erstrebt, sondern daß er diese Forderung erhebt auf der Grundlage einer neuen Weltanschauung, daß der gesellschaftlichen Umwälzung, die sich vor unseren Augen vollzieht, längst eine geistige Umwälzung alles wissenschaftlichen Denkens vorausgegangen ist, die eine noch viel totalere und elementarere Verschiebung der Weltbetrachtung bedeutet, als dies beispielsweise das kopernikanische Sonnensystem gegenüber den alten Systemen der Ptolemäer gewesen ist. An diese Tatsache muß das Proletariat von heute um so mehr gerade an seinem großen Weltfeiertag erinnert werden, als der politische und wirtschaftliche Kampf des Alltags es nicht selten das große geistige Erbe vergessen läßt, das seine geistigen Väter für die Arbeiterklasse gesammelt haben und das diese Klasse in jeder Generation wieder neu erwerben muß, um es zu besitzen.

Die deutsche Sozialdemokratie ist eine politische Partei. Für sie gelten die Bedingungen des politischen Kampfes, und sie stellt sich in erster Linie politische Ziele und das Endziel der Eroberung der politischen Macht. Sie kann ganze weite Gebiete des geistigen Lebens neutralisieren, kann die Religion als Privatsache erklären; als po

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] In der Quelle: trutzenden.