Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 230

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Ausnahmegesetze!

[1]

Daß der neue „Mordanschlag“ auf den deutschen Kaiser[2] von der Reaktion zu einem Umsturzgesetz fruktifiziert werden würde, lag auf der Hand.[3] Es lag so sehr auf der Hand, daß jeder verständige Mensch sich nach den abenteuerlichen Berichten aus Alexandrien sofort sagen mußte: Zehn gegen eins spricht dafür, daß es Polizeimache ist. Aber die reaktionäre Presse macht natürlich bitteren Ernst mit der Geschichte.

„Hier sind Ausnahmegesetze am Platz“, schreit heiser die „Kreuz-Zeitung“, – „Ausnahmegesetze, die vor allem die weitere Propaganda einer ruchlosen Gesinnung unmöglich machen oder sie doch so weit erschweren, als die Hand des Staates und seiner Organe reicht. Nachsicht ist heute gefährlichste Schwäche, und wer nicht mithelfen will, den wird auch die Verantwortung für das Unheil mit treffen, das alle bedroht, die nicht sind und nicht denken, wie die Anarchisten selbst.“

Wie sehr wir auch das geistige Niveau unserer Gegner und ihr Vermögen, aus der Geschichte etwas zu lernen, gering schätzen, an die Aufrichtigkeit dieser Überzeugung, daß dem Anarchismus durch Ausnahmegesetze das Wasser abgegraben werden könne, glauben wir doch nicht. So viel hat wenigstens die deutsche Reaktion aus den Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte gewiß gelernt, daß, wenn die Ausnahmegesetze überhaupt das verkehrteste Mittel sind, irgendeiner politischen Richtung entgegenzuarbeiten, sie für den Anarchismus geradezu die eigentliche Brutstätte, den besten Nährboden bilden. Es wird oft gesagt: Die Wurzeln des Anarchismus stecken, wie die der Sozialdemokratie, in den gegenwärtigen sozialen Zuständen. Dies ist richtig und nicht richtig zugleich, denn zwischen Sozialdemokratie und Anarchismus besteht in dieser Beziehung ein gewaltiger Unterschied. Die Sozialdemokratie wurzelt tatsächlich in den sozialen Zuständen des Kapitalismus, wie er seine Blüten überall, in allen Ländern, in der demokratischen Schweiz wie in dem autokratischen Rußland

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Er befindet sich als Abschrift in den im RGASPI, Moskau, (Fonds 209) archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ hatte, gestützt auf englische Quellen, über einen anarchistischen Attentatsplan auf Wilhelm II. während seiner Palästinareise 1898 berichtet, der entdeckt wurde.

[3] Wilhelm II. kündigte am 6. September 1898 in einer Rede in Oeynhausen neue Ausnahmegesetze gegen die Arbeiterklasse an, wonach die Organisierung und Durchführung von Streiks mit schweren Zuchthausstrafen geahndet werden sollte.