Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 684

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Die Revolution in Rußland

[1]

Balfours Protest gegen die Judenmetzeleien

London, 14. November. In einer gestern in der Memory Hall abgehaltenen Versammlung von Juden, in welcher gegen die Ausschreitungen gegen die Juden in Rußland Protest erhoben wurde, ist folgendes Telegramm Balfours verlesen worden: Die Regierung Seiner Majestät hat mit Bedauern und Entsetzen von den Judenmassaker gehört und bereits alle Maßregeln ergriffen, welche geeignet erscheinen, das Ungemach zu mildern. Ähnliche Telegramme sind von Lord Rosebery, Chamberlain, Asquith, den Erzbischöfen von Canterbury und Westminster und anderen angesehenen Persönlichkeiten eingegangen.

Daß die deutsche Regierung dem Zaren Vorstellungen wegen dieser bestialischen Schlächtereien zu machen gedenkt, ist noch nicht bekannt geworden!

Unsere konservativen Organe haben die schamlosen Metzeleien, die der zaristische Bluthund Trepow[2] bekanntlich inszeniert hat und die zum großen Teil von Soldaten und Polizisten selbst verübt wurden, beinahe mit einem Freudenausbruch aufgenommen!

Witte droht!

Petersburg, 14. November. Wie „Nascha Shisn“ [Unser Leben] meldet, äußerte Graf Witte[3] bei dem Empfange einer Abordnung aller polnischen Stände unter anderem, daß die Regierung nicht daran denke, Zugeständnisse an die Polen zu machen, da deren Unreife für Reformen greifbar zutage getreten sei. Es sei jetzt klar, daß nur ein kleines Häuflein Revolutionäre Reformen wünsche. Ferner erinnert Witte daran, daß wieder eine Reaktion eintreten könne.

Petersburg, 14. November. Von den fortschrittlichen Blättern wird die Kundgebung der Regierung über Polen abfällig beurteilt. „Russ[Otetschestwa]“ [Rußland] sagt, die Kundgebung sei eine direkte Folge des bürokratischen Charakters des Kabinetts Witte, und fordert unverzüglich in dieser oder jener Form Vertreter der Gesellschaft in das Kabinett aufzunehmen, da Gefahr im Verzuge sei. „Syn Otetschestwa“ [Sohn des Vaterlandes] stellt die Untätigkeit der Regierung im Reiche dem entschlossenen Vorgehen Wittes gegen die Polen gegenüber und zieht daraus die Folgerung, daß Witte die Hände frei habe, sobald es sich um wehrlose Bevölkerung handele, daß sie ihm

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Dmitri Trepow war seit 1896 Polizeichef von Moskau und seit April 1905 Polizeiminister.

[3] Graf Witte war von 1892 bis 1903 Finanzminister und von Oktober 1905 bis April 1906 Ministerpräsident Rußlands. Er war Monarchist, aber zeitweilig zu einem Bündnis mit der Großbourgeoisie und zu konstitutionellen Zugeständnissen bereit. Letzten Endes war er maßgeblich an der Unterdrückung der Revolution beteiligt.