Proletariat und Religion
[1]Pfingsten ist in der christlichen Kirche das Fest des heiligen Geistes, der im Jahre 381 unserer Zeitrechnung auf der Kirchenversammlung in Konstantinopel zu göttlichen Ehren erhoben wurde, neben dem Gott-Vater und dem Gott-Sohn, so jedoch, daß alle drei eins sein sollten, ein heiliges Mysterium und ehrwürdiges Mirakel und als solches ein Spott auf das profane Einmaleins, das sich die weltliche Menschheit schon lange an den fünf Fingern abzählen gelernt hatte.
Seit anderthalb Jahrtausenden ist über diesen heiligen Geist sehr viel gepredigt, geredet und geschrieben worden, ohne daß es je einem Menschen gelungen wäre, hinter das wundervolle Geheimnis zu kommen, das in so hoffnungslosem Widerspruch mit der simplen Tatsache stand, daß dreimal eins gleich drei und nicht gleich eins ist. Am schönsten hat Heinrich Heine das Weben und Wirken des heiligen Geistes darzustellen gewußt, als er von ihm sang:
Dieser tat die größten Wunder,
Und viel größre tut er noch;
Er zerbrach die Zwingherrnburgen,
Und zerbrach des Knechtes Joch.
Alte Todeswunden heilt er,
Und erneut das alte Recht;
Alle Menschen, gleichgeboren,
Sind ein adliges Geschlecht.[2]
Diesen heiligen Geist möchten wir uns schon gefallen lassen, und er bietet einen trefflichen Text zu einer Pfingstpredigt, einen weit trefflicheren, als die verworrene Mär der Apostelgeschichte, die an den Pfingsttagen von den Kanzeln gepredigt wird. Aber wir wollen keine Pfingstpredigt halten, nicht einmal eine weltliche, die unter Umständen noch unerträglicher ist als eine geistliche. Unser Festgruß an unsere Leser sei ein kurzes Wort über Proletariat und Religion.
[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.
[2] Heinrich Heine: Aus der Harzreise 1824 – Bergidylle. In: ders.: Werke und Briefe, Bd. 1, Berlin und Weimar 1980, S. 169.