Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 406

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Seine Schlappe sowie die anderen Mißerfolge der ministeriellen Sozialisten in Paris gehören wesentlich in das gleiche Kapitel, wie die Verluste der Radikalen an die Nationalisten: die Pariser Krämer, eine wirtschaftlich immer mehr niedergehende Schicht, klammern sich in Verzweiflung an jede neu auftauchende Demagogie, um ihren Kramladen zu retten oder doch ihre Unzufriedenheit demonstrativ kundzugeben. Dazu kommt noch speziell für Millerand der Abfall der zielbewußten proletarischen Sozialisten, die für den Genossen Chauvin stimmten, – ungeachtet der von den Millerandisten betriebenen abscheulichen Kampagne gegen die persönliche Ehrenhaftigkeit Chauvins, eines Genossen, der seit 20 Jahren in der Partei kämpft und seit vielen Jahren Mitglied des guesdistischen Parteivorstandes ist.

Die Radikalen haben in Paris ihre schwerste Niederlage erlitten in der Person Mesureurs, des Vizepräsidenten der Kammer und früheren Handelsministers, und besonders in der Person Brissons, der in eine fast aussichtslose Stichwahl kommt. Brisson büßt so für die ehrlichste und tapferste Tat seiner politischen Laufbahn – die Einleitung der Dreyfus-Revision.[1]

Gesamtergebnis im Seine-Departement (Paris und Bannmeile): 22 definitive Wahlen und 28 Stichwahlen. Die Nationalisten behaupten 10 und gewinnen sieben Sitze, darunter drei auf Kosten der Radikalen, zwei auf Kosten der ministeriellen Sozialisten, einen auf Kosten der Blanquisten und einen neuen Kreis. Von den 28 Stichwahlen sind den Nationalisten günstig neun, den Radikalen sechs, den ministeriellen Sozialisten elf und den Blanquisten zwei.

Bisher bekannte Ergebnisse aus ganz Frankreich für die Sozialisten: Insgesamt wurden 20 Sozialisten gewählt: sechs Blanquisten (Vaillants Organisation), sämtlich alte Sitze, 14 Jaurèsisten, unter den letzteren drei neu gewonnene Mandate: Jaurès-Carmaux, Briand-St. Etienne und Vital-Rousseaux. Im Ganzen behaupten die Sozialisten 17, gewinnen drei und verlieren fünf Mandate.[2]

Jaurès hat also die Scharte[3] von 1898 ausgewetzt; er besiegt den Kohlenmarquis de Solages mit Hilfe der Radikalen und vielleicht auch der „gemäßigten“ Republikaner, an welch letztere er ebenfalls in einem Wahlaufruf appelliert hat. Die bäuerlichen Wähler, die 1898 Jaurès’ Niederlage verschuldet, sind jetzt wieder für ihn eingetreten. Die Arbeiterbevölkerung von Carmaux hatte ihm auch 1898 eine Mehrheit gegeben.

Der nationalistische Siegesjubel wird ganz besonders gedämpft durch die Niederlage Drumonts, des Antisemitenpapstes, in Algier, sowie durch die Niederlagen des Bonapartisten Cassagnac und des klerikalen Führers de Piou.

Leipziger Volkszeitung,

Nr. 98 vom 30. April 1902.

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[1] Zur Dreyfus-Affäre siehe GW, Bd. 6, S. 148 f., 150 f., 156 f. und 160 f.

[2] Die französische sozialistische Bewegung wies in den 90er Jahren des 19. Jh. eine kollektivistische, marxistische (Guesdisten), eine possibilistische, kleinbürgerlich-reformistische (Broussisten), eine blanquistische, sektiererische (Blanquisten), eine anarcho-syndikalistische (Allemanisten) und eine „unabhängige“ sozialreformerische (Jaurèsisten) Strömung auf.

[3] In der Quelle: Schwarte.