Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 361

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Ein politisches Attentat

[1]

Aus Petersburg kommt die Kunde, daß gestern Nachmittag ein Uhr in der Vorhalle des Reichsratsgebäudes auf den Minister des Innern ein Mordanschlag verübt worden ist. Der Täter berührte mit der Waffe fast die Person des Ministers; dieser verschied um zwei Uhr.

Eine ausführliche Meldung besagt: Der ermordete Minister des Innern, Sipjagin, hatte das Reichsratsgebäude betreten, um sich in eine Sitzung des Ministerkomitees zu begeben. Der Mörder, welcher kurz vorher in einer Equipage eingetroffen war, wartete auf den Minister und übergab ihm das Schreiben. Als der Minister das Schreiben entgegennahm, feuerte der Überbringer vier Schüsse auf den Minister ab und verwundete ihn schwer. Der schwer Verwundete wurde alsbald in das nahe gelegene Maximilianowski-Hospital gebracht und verschied trotz ärztlicher Hilfe nach etwa einer Stunde. Der Mörder wurde sofort verhaftet.

Gegen ein Uhr mittags übergab ein in Adjutantenuniform gekleideter Unbekannter dem Minister bei dessen Ankunft im Vestibül des Reichsratsgebäudes ein versiegeltes Couvert mit der Bemerkung, er habe es im Auftrag des Fürsten Sergiew zu überbringen. Im selben Augenblick gab der Unbekannte vier Schüsse auf den Minister ab und traf denselben tödlich. Der Mörder wurde festgenommen und gibt an, Balmaschkow[2] zu heißen. Er behauptet, als Student der Universität Kiew bei den vorjährigen Unruhen gemaßregelt worden zu sein und dadurch den Racheplan gegen den Minister gefaßt zu haben. Der Attentäter leistete bei der Verhaftung keinerlei Widerstand.

„Der Despotismus, gemildert durch den Mord“, – so wurde die Verfassung des halbasiatischen Zarenreichs schon zu Zeiten gekennzeichnet, als Palastrevolutionen und Kamarillaverschwörungen von Zeit zu Zeit die heiße Hofluft angemessen temperierten und das Wort noch Geltung hatte, daß selten ein Herrscher aus dem Hause der Romanows eines natürlichen Todes sterbe. Seitdem in Rußland politische Bewegungen existieren, hat sich der politische Mord als ständige Institution eingebürgert, schon aus dem einfachen Grunde, weil das Attentat das einzige und letzte Ventil bleibt, durch das die gespannte Atmosphäre explosiv entweichen kann. Was anderswo

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[1] Der Artikel ist nicht gezeichnet, sehr wahrscheinlich aber von Rosa Luxemburg. Sie war zu dieser Zeit Mitarbeiterin der Leipziger Volkszeitung. Als Abschrift befindet sich der Artikel in den im RGASPI, Moskau, Fonds 209, archivierten Unterlagen für weitere Bände der von Clara Zetkin und Adolf Warski herausgegebenen und von Paul Frölich bearbeiteten „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs.

[2] In der Quelle: Babschanew.