Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 721

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Die Revolution in Rußland

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Die augenblickliche Situation ist die einer Vorbereitung und Rüstung auf allen Seiten zum neuen scharfen Kampfe. Der soeben abgeschlossene Semstwo-Kongreß[2] hat die Stellung der Liberalen klar und deutlich bestimmt: Die formelle Ablehnung der Einberufung einer Konstituierenden Versammlung, womit die verfassungsgebende Kompetenz auf die ordentliche „Duma“ übertragen wurde, und der Beschluß, die Regierung bei der Durchführung dieser „Verfassung“ zu unterstützen, ist ein der Arbeiterklasse, der Sozialdemokratie geworfener Fehdehandschuh. Zwischen dieser Partei der konstitutionellen Monarchisten, die von der Regierung der „Schwarzen Hunderte“[3] eine Verfassung erwarten und mit ihr, nicht aber zusammen mit der „Straße“ die Freiheit durchsetzen wollen, und der Sozialdemokratie wird es über kurz oder lang zu scharfen Kämpfen kommen, die umso schroffer werden, je mehr die Bauernunruhen zunehmen. Schon der erste Feuerschein des Bauernaufstandes hat genügt, um den agrarischen Liberalismus in die Flucht zu jagen: Die Angst vor der Revolution war die Grundnote aller Reden auf dem Kongreß. Jetzt drängen die Herren auf die schleunigste Durchführung der Dumawahlen zur Wiederherstellung der „Ordnung“. Und man kann sicher erwarten: Wenn diese liberalen Männer erst ihre Portefeuilles haben und an der Macht sind, sie werden im rücksichtslosen Gebrauch der Gewalt gegen die revolutionäre Arbeiterklasse und das Bauerntum den Absolutismus noch in den Schatten stellen! … Mittlerweile rüstet die städtische Arbeiterschaft fieberhaft zu weiteren Kämpfen. Die ganze Energie der Sozialdemokratie in Rußland wie in Polen ist jetzt auf die Organisation der Masse gerichtet. In erster Linie steht hier neben der Gründung einer legalen Parteipresse die Schaffung legaler oder halblegaler Gewerkschaften, sodann auch die Legalisierung der politischen Organisation der Sozialdemokratie. Neue Probleme der Taktik und der Organisation tauchen dabei auf Schritt und Tritt auf, und so geht, äußerlich unbemerkt, besonders für das Ausland unsichtbar, das Werk der inneren Klärung und Festigung des Klassenkampfes unermüdlich fort. Die Revolution ruht nicht eine Sekunde auf den Lorbeeren. In den Momenten, wo sie keine lauten Schlachten schlägt und die Welt nicht mit Waf-

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Semstwo: 1864 im Zuge liberaler Reformen in Rußland eingerichtetes und bis 1917 bestehendes Organ lokaler Selbstverwaltung auf Gouvernements- und Kreisebene. In ihnen waren der Adel, die Städter und die Bauern vertreten. Zum Semstwo-Kongreß Rosa Luxemburg: Die Revolution in Rußland, In: GW, Bd. 6, S. 714 ff.

[3] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen.