Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 405

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Die französischen Wahlen

[1]

Aus Paris wird uns geschrieben: Die ersten, bis zur Stunde bekannten Wahlergebnisse machen denselben Eindruck wie die Gemeindewahlen von 1900, die ja ebenfalls unter dem Ministerium der „republikanischen Verteidigung“ und wesentlich unter den gleichen Kampfparolen ausgefochten worden. Es zeigt sich, wie 1900, derselbe Gegensatz zwischen Paris und der Provinz: hier ein Vordringen des Nationalismus aller Schattierungen, dort ein Erfolg der ministeriellen Parteien und einige schwere Niederlagen der Führer des nationalistischen Mischmasches.

Für die Pariser Wahlen ist es bezeichnend, daß von den 22 definitiven Ergebnissen 17 auf die Nationalisten (worunter ein Mélinist), vier auf die revolutionären Sozialisten (sämtlich Blanquisten) und nur eins auf einen übrigens nationalistisch angehauchten Radikalen entfallen. Kein einziger eigentlich ministerieller Kandidat vermochte in Paris und Umgebung durchzudringen, und nur die antiministeriellen Sozialisten haben vier Sitze gegen den nationalistischen Ansturm glänzend behauptet.

Am glänzendsten ist der Sieg des Genossen Vaillant, der mit 8745 Stimmen drei Gegenkandidaten: einen nationalistisch-radikalen, einen nationalistisch-monarchistischen und einen nationalistisch-antisemitischen aufs Haupt schlägt. Unser Genosse, zuerst 1893 gewählt, siegt jetzt zum ersten Mal glatt in der Hauptwahl, und das mit einer gegenüber 1898 um 2700 Stimmen gestiegenen Wählerzahl.

Die antiministeriellen Sozialisten haben in Paris nur den Sitz Groussiers an die Nationalisten verloren. Die ministeriellen Sozialisten verlieren an die Nationalisten zwei Sitze (Chassaing und Gras, denen also ihr ultraopportunistisches Versteckspiel nichts genutzt hat!) und haben noch keinen einzigen behauptet.

Gegenüber dem großartigen Sieg Vaillants hebt sich besonders eindrucksvoll ab die schwere Schlappe des Handelsministers Millerand. Seit 1889 an einen spielend leichten Sieg gewöhnt, im Jahre 1898 ohne Gegenkandidaten mit mehr als 8000 Stimmen gewählt, kommt Millerand jetzt in eine sehr problematische Stichwahl mit bloß 4935 Stimmen. Sein guesdistischer Gegenkandidat, Genosse Chauvin, erhält 1094, der Nationalist Pechin 4185 Stimmen und weitere drei – vier Kandidaten zusammen über 1000 Stimmen. Dieser Rückgang der Millerandschen Stimmen hauptsächlich zu Gunsten der Nationalisten zeigt zugleich, was für zweifelhafte sozialistische Mitläufer von jeher sich unter Millerands Anhängerschaft befanden.

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[1] Der Artikel erschien anonym in der Rubrik „Politische Übersicht“. Rosa Luxemburg ist vermutlich die Autorin, 1898 hatte sie für die Sächsische Arbeiter-Zeitung (Dresden) über Frankreich ähnliche Notizen geschrieben, siehe GW, Bd. 6, ab S. 119.