Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 396

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Die letzten Zuckungen

[1]

Die Wiederaufnahme der Arbeit in Belgien ist fast allgemein. Nur im Landstrich von Chaleroi streiken, wie uns aus Belgien mitgeteilt wird, noch an 12000 Grubenarbeiter. Doch haben in der Mehrzahl der Gruben alle Arbeiter die Arbeit wieder aufgenommen; ebenso alle Metallarbeiter. Im Borinage sind noch 20000 Bergleute im Streik. Doch fehlt es dort auch nicht an Maßregelungen. Es wird uns berichtet, daß in zwei großen Bergwerken eine größere Anzahl Steiger, die die Arbeit wieder aufnehmen wollten, ohne weitere Erklärung ihr Entlassungsbuch bekommen haben. Aus Brüssel wird uns noch gemeldet:

Brüssel, 24. April. Die hiesige Gewerkschaft der Schuhmacher stimmte folgender Tagesordnung zu: „Die Mitglieder der Gewerkschaft, treue Soldaten der Arbeiterpartei, beugen sich vor dem Beschluß des Generalrats, bemerken aber, daß sie gewünscht hätten, bis zum äußersten zu gehen, um das 8. U. [sic! – ?] zu unterstützen. Sie verpflichten sich, beim ersten Rufe des Generalrates den Kampf wieder aufzunehmen.“

Die innere Widerstandskraft der belgischen Arbeiterbewegung offenbart sich nicht zum geringsten in der zähen und trotzigen Energie, mit der große Teile der Arbeiterschaft den Streik fortsetzen, auch nachdem bereits die Leitung von Oben Konterdampf gegeben hat. Angesichts dieser Erscheinung muß auch denjenigen, welche einem Generalstreik aus doktrinärer Voreingenommenheit skeptisch gegenüberstehen, doch die Frage ernstlich auftauchen, ob man nicht besser getan hätte, den Elan, diese ungeheure Spannung, der sich in dem Massenstreik von 350000 Arbeitern zusammengeballt hatte, sich in seiner ganzen elementaren Wucht entladen zu lassen, statt der Bewegung im letzten Augenblick aus diplomatischen, staatsklugen, staatsmännischen Motiven in den Arm zu fallen.

Die Überzeugung festigt sich bei uns jeden Tag mehr, daß die ganze Politik, die die parlamentarischen Führer der Belgischen Arbeiterpartei schon seit Jahren getrieben haben, eine taktisch verfehlte gewesen ist. Der Erfolg des Jahres 1893 und die Eroberung von über 30 Mandaten schien die Bewegung damals auf den einseitig parlamentarischen Weg zu weisen. Schon 1896 setzte Vandervelde dem Korrespondenten eines großen deutschen Blattes, wenn wir uns recht erinnern, der „Frankfurter Zei

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[1] Der Artikel erschien anonym in der Rubrik „Politische Übersicht“. Rosa Luxemburg ist vermutlich die Autorin. Zur ihrer Rolle in der LVZ hatte sie Clara Zetkin am 16. März 1902 berichtet, sie werde ab 1. April 1902 zusammen mit Franz Mehring die politische Leitung der LVZ übernehmen und alles so ordnen, „um Weiteres von hier aus durch Artikel und Übersichten zu tun“. [Redaktionelle Hervorhebung.] Der belgische Wahlrechtskampf bildete außerdem 1902 einen Schwerpunkt ihrer Beobachtungen und Analysen. Siehe: „Der dritte Akt“, „Steuerlos“, „Die Ursache der Niederlage, „Das belgische Experiment“ und „Zum dritten Male das belgische Experiment“. In: GW, Bd. 1, 2. Halbbd., ab S. 195.