Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 770

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Der politische Massenstreik. Vortrag am 6. Dezember 1905 in der von sozialdemokratischen Frauen einberufenen Volksversammlung in Berlin

Nach einem Zeitungsbericht

Als Neuheit war zu verzeichnen, daß die Polizei dem Vertreter der Presse, ja selbst der Referentin den Eintritt verwehrte. Nach heißem Streite erst gelang es den Ausgesperrten, auf Seitenpfaden zum Saal vorzudringen. – Nachdem Genossin Luxemburg diese Begebenheit mit einigen sarkastischen Worten einleitend berührt hatte, verwies sie zunächst auf den interessanten Umstand, daß in der deutschen Arbeiterschaft in letzter Zeit dem politischen Massenstreik allgemeines warmes Interesse entgegengebracht werde, während bis vor kurzem der Sozialdemokratie Deutschlands dieses Kampfmittel undiskutierbar erschien. Solche plötzlichen Umschläge in der Würdigung einer politischen Losung seien immer von symptomatischer Bedeutung dafür, daß in den sozialen Verhältnissen tiefgreifende Verschiebungen eingetreten seien, nämlich das, was Hegel den Umschlag der Quantität in eine neue Qualität nenne. Den Hauptwert lege sie auf das bloße Interesse für die Debatte um den politischen Massenstreik, es komme gar nicht darauf an, ob dieser oder jener Genosse, ob diese oder jene Parteizeitung sich gegen den politischen Massenstreik ausspreche. Die deutsche Arbeiterschaft habe sich plötzlich mit heißem Interesse der Losung zugewandt, ohne daß bestimmte Instanzen und Führer ein Interesse dafür gezeigt hätten. Man erinnere sich bloß an den Gewerkschaftskongreß in Köln,[1] wo die Vertreter der Gewerkschaften, ja die Blüte des gewerkschaftlichen Beamtentums in ganz Deutschland, zu dem Beschlusse gekommen sei, der politische Massenstreik komme nicht in Betracht, ja sogar die Diskussion sollte verboten sein. Genosse Bömelburg protestierte zwar gegen diese Auslegung der Resolution, der „Grundstein“[2] aber schreibe: „Der politische Massenstreik kommt trotz Jena für uns nach wie vor nicht in Betracht, ja wir lehnen jede Diskussion darüber ab.“ Solche Beschlüsse bewiesen nichts anderes, als eine gewisse rührende Vorstellung bestimmter Leute, welche sich einbildeten, durch einen Ukas an das Volk: „Ihr habt das Maul zu halten!“ dem wirklichen Tun und Lassen der Arbeiterschaft die Wege weisen zu können. Es habe sich

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[1] Der fünfte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand in Köln vom 22. bis 27. Mai 1905 statt. In seiner Resolution heißt es: „Den Generalstreik, wie er von Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Kampfes vertreten wird, hält der Kongreß für undiskutabel; er warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen.“ Kongreßprotokoll, Berlin o. J., S. 30.

[2] „Der Grundstein“, Organ der Maurer, Steinhauer und verwander Berufsgenossen in Deutschland, erschien seit 1. Oktober 1875 vierzehntägig in Hamburg.