Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 771

https://rosaluxemburgwerke.de/buecher/band-6/seite/771

wiederum erwiesen, daß die Masse der Arbeiterschaft zuweilen weiter gehe und klarer sehe als die sogenannten Führer. (Beifall.) Und daß unsere Zukunft nicht in der Unfehlbarkeit der Führerkreise, namentlich nicht in den Beamtenkreisen liege, sondern in den großen Massen selbst. – Bei jeder neuen Frage der Taktik und des Prinzips, die an uns herantrete, müßten wir uns darüber klar werden, auf welcher allgemeinen theoretischen Grundlage wir diese Frage behandeln und untersuchen wollten. Verschiedene Auffassung gebe es in bezug auf den Massenstreik. Da steht auf der einen Seite z. B. der Genosse Friedeberg mit seiner eifrigen Predigt des Massen- oder Generalstreiks in seinem Sinne und demgegenüber der strikt ablehnende Standpunkt der erwähnten Gewerkschaften. Beide Auffassungen ständen auf demselben Boden, nämlich dem anarchistischen. Bezeichnend für die anarchistische Denkweise sei, daß sie Aufgaben des politischen Kampfes, losgerissen von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, lediglich vom Standpunkt der in blauer Luft schwebenden Spekulation betrachte. Nur auf Grund solcher freien Spekulation könne man glauben, den Massenstreik durch eifriges Predigen heraufbeschwören zu können. Auf der anderen Seite stehe man ebenso in der Luft, wenn man meine, durch ein einfaches Verbot den Massenstreik verhindern zu können. Beide Auffassungen betrachteten ihn nicht vom Standpunkt der historischen Notwendigkeit, sondern sähen darin ein beliebig zu benutzendes Werkzeug des Kampfes. Ihnen sei der Generalstreik gewissermaßen eine Art Taschenmesser, das man immer mit sich herum trägt, um es nötigenfalls aufzuklappen oder zuzuklappen. Von dieser trivialen Auffassung unterscheide sich grundsätzlich die Auffassung der Sozialdemokratie, die auch hier auf geschichtlichem Boden stehe, wie in allen Fragen der Theorie und Taktik. Die Sozialdemokratie frage nicht: „Ist es gewagt oder nützlich, ein Experiment mit dem Massenstreik zu machen? Wollen wir es oder wollen wir es nicht?“ Die Sozialdemokratie stelle (entsprechend ihrer materialistischen Geschichtsauffassung) die Frage so: „Wenn wir einen Blick auf die jetzige und nächste Entwicklung der Klassengegensätze in der heutigen Gesellschaft werfen und daraus unsere Schlüsse ziehen, ergibt sich dann der Massenstreik als historisch gegebene Notwendigkeit, als historische Form des Klassenkampfes oder nicht?“ Wenn man die Frage so stelle, dann erübrigte es sich eigentlich, auf die mancherlei Einwände einzugehen, die von den Gegnern des Massenstreiks erhoben würden. – Rednerin machte dann, indem sie es für das eigentliche Thema für notwendig hielt, eine Abschweifung auf das Gebiet der internationalen Weltpolitik, kennzeichnete namentlich die Situation, wie sie jetzt im Fernen Osten nach dem letzten Kriege zwischen Rußland und Japan[1] sich herausgebildet hat, um daraus den Schluß zu ziehen, daß man dort noch blutigere Kriege erwarten müsse. Über kurz oder lang werde auch Deutschland nicht mehr Zuschauer, sondern Mitleidender sein. Kiautschou wolle man zur Seefestung machen; wer damit beginne, ar-

Nächste Seite »



[1] Im Russisch-Japanischen Krieg, den Japan im Januar 1904 begonnen hatte und der im September 1905 mit einer schweren Niederlage der russischen Truppen endete, ging es um Einflußsphären und Vorherrschaft im Fernen Osten. Die Niederlage schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.