Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 839

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Die Revolution in Rußland

[1]

Der Generalstreik schreitet fort

Petersburg, 22. Dezember. Der telegraphische Verkehr mit Moskau ist unterbrochen.

Petersburg, 21. Dezember. (Meldung der „Petersburger-Telegraphen-Agentur“.) Heute Nachmittag begann der Ausstand in 220 Fabriken. 70000 Arbeiter, etwa ein Drittel der gesamten Arbeiterzahl, befindet sich im Ausstand.

Petersburg, 22. Dezember. Der gestern Mittag begonnene Ausstand dehnt sich weiter aus. Der Mittagszug nach Eydtkuhnen ist unter starker militärischer Begleitung abgefahren. Der Stadtteil, in dem sich die Reichsbank und die Kaufhäuser befinden, wird stark bewacht. Infanteriepatrouillen durchziehen die Straßen.

Die „Schwarzen Hunderte“[2] an der Arbeit

Moskau, 21. Dezember. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) Von Fuhrleuten wurde auf ausständige Eisenbahner ein Angriff unternommen. Bei dem Handgemenge wurden viele Pferde der Fuhrleute getötet. Die Mitglieder des Büros der Arbeiterdeputierten sind verhaftet. Seitens der Menge wurden einige Gewalttätigkeiten gegen revolutionäre Redner und Studenten verübt. Die Ausständigen wollen die Post- und Telegraphenbeamten zwingen, ebenfalls in den Ausstand zu treten. Alle Privatbanken sind laut Beschluß des Bankbeamtenverbandes geschlossen, auch alle Magazine, Läden und Theater sind geschlossen. Ein Haufe von 300 Mann durchzog die Straßen und zwang die Gastwirtschaften, ihre Räume zu schließen.

Aus Charkow werden die gestrigen Meldungen bestätigt. An der Kundgebung mit roten Fahnen nahmen auch 250 Soldaten der Regimenter Starobjelsk und Lebeinsk teil. Die gegen die Menge entsandten Truppen ließen ihrem Befehle gemäß die Ruhestörer vorüberziehen, ohne zu feuern. Die Revolutionäre deuteten das zu ihren Gunsten.

Moskau, 21. Dezember. (Meldung der „Petersburger Telegraphen-Agentur“.) In den Räumen des Aquariums fand heute eine von 12000 Personen besuchte Versammlung statt. Infanterie, Dragoner, Gendarmerie, Kosaken und Polizisten besetzten die Ausgänge und stellten an die Eingeschlossenen die Forderung, ihre Waffen abzuliefern.

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“.

[2] Die „schwarzen Banden“, „Schwarzen Hundert“, „Schwarzhundertschaften“ waren eine im „Bund des echt russischen Volkes“, nach dessen Spaltung 1908 auch im „Erzengel-Michael-Bund“, verankerte militant nationalistische und antisemitische Bewegung von Monarchisten. Sie agierten als bewaffnete terroristische Banden des zaristischen Regimes, ermordeten Arbeiter, Intellektuelle und zettelten Pogrome an. Sie setzten sich aus reaktionären Elementen des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats und aus Kriminellen zusammen. iehe