Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 881

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Der tschechische bürgerliche Wahlausschuß hat auch seinerseits zwei tschechische sozialdemokratische Kandidaten auf seine Liste übernommen. Die deutsche Liste hat nun, wie der Telegraph meldet, gesiegt. Bis jetzt kamen nationale Zwistigkeiten in der österreichischen Bruderpartei nur auf gewerkschaftlichem Gebiete und in kleineren Pressscharmützeln zum Vorschein, die Brünner Gemeinderatswahl ist der erste Fall, wo sie auch auf den politischen Kampf übergreifen. Hoffentlich sind das nur vorübergehende nebensächliche Erscheinungen, die namentlich vor dem Beispiel des großen revolutionären Kampfes im Zarenreich nicht bestehen werden, wo die Proletarier aller Nationalitäten nur eine Phalanx des Klassenkampfes bilden ohne Beimischung separatistischer nationaler Bestrebungen.

Vorwärts (Berlin),

Nr. 284 vom 5. Dezember 1905.

Die Kasseler Geschmacklosigkeiten gegen den „Vorwärts“

werden fortgesetzt. Das Blatt des Genossen Scheidemann druckt unsere jüngste Erwiderung auf seine Äußerung im Reichstage[1] mit folgenden Randglossen ab: Die Erklärung Scheidemanns paßt natürlich dem bestreffenden Redakteur des Berliner Parteiblattes nicht und er schreibt u. a.: „Bisher war die Benutzung der Reichstagstribüne zur Erteilung von öffentlichen Rügen an die Parteipresse nicht üblich; wir sehen deshalb in dem Vorgehen des Genossen Scheidemann nur eine Entgleisung eines einzelnen Abgeordneten.“

Der „Vorwärts“ wird sich an solche „Entgleisungen“ gewöhnen müssen. Soweit wir die Genossen Heine, Frohme, Lesche, Bernstein, Elm, Ehrhart usw. kennen, glauben wir überzeugt sein zu dürfen, daß auch sie kein Blatt vor den Mund nehmen werden, wenn man im Reichstag den „Vorwärts“ zitiert, um ihnen zu zeigen, wie hochachtungsvoll dieser sie eingeschätzt hat. Wenn der eine oder andere „Vorwärts“-Redakteur sich einbilden sollte, daß die Genossen, die nicht den außerordentlichen Vorzug genießen, in der Lindenstraße[2] für vollwertige, bis ins Mark historisch-ökonomisch geeichte Sozialdemokraten gehalten zu werden, jede noch so geschmacklose Schulmeisterei mit Ergebenheit einzustecken haben, dann ist das ein ökonomisch-historischer Irrtum. Da wir außerordentlich wenig Neigung haben, jetzt noch mit dem Berliner Parteiblatt zu polemisieren, so haben wir unseren geschätzten ]=[ Mitarbeiter gebeten, von der Veröffentlichung seiner vortrefflichen Antwort an den „Vorwärts“ abzusehen. „Keine Antwort“, so schrieben wir ihm, „ist die beste Antwort dem gegenüber, der sich aus Mangel an gescheiten Einfällen erlaubt, einem unserer kenntnisreichsten Parteigenossen zu sa-

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[1] Die Bemerkung von Philipp Scheidemann in der Debatte zur sozialdemokratischen Interpellation gegen die Steigerung der Fleischpreise lautete: „Herr Graf zu Reventlow hat weiter gesagt, daß der ‚Vorwärts‘ mir empfohlen hätte, erst mehr Kenntnisse sammeln, bevor ich über Handelspolitik schreibe. Damit hat Herr Graf zu Reventlow eine objektive Unwahrheit ausgesprochen. Ein Vorwärtsredakteur hat in ebenso geschmackloser wie durchaus verfehlter Weise die betreffenden Bemerkungen gemacht gegenüber dem Verfasser eines Artikels, der ausdrücklich gekennzeichnet war als nicht von mir herrührend. Mit keinem Wort ist in der ganzen Auseinandersetzung von meiner Person die Rede gewesen.“ Reventlow bezeichnete seine Äußerung als Irrtum. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstags, XI. Legislaturperiode. II. Session 1905/1906. Erster Sessionsabschnitt vom 28. November 1905 bis zur Vertagung der Session am 28. Mai 1906. Erster Band, Berlin 1906, S. 75 C und 75 D.

[2] In der Lindenstraße war der Sitz der Redaktion des Vorwärts.