Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 277

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Die Affäre Dreyfus und der Fall Millerand. Antwort auf eine „internationale Umfrage“

[1]

Das sozialistische Prinzip des Klassenkampfes fordert das Eingreifen des Proletariats überall dort, wo seine Klasseninteressen auf dem Spiele stehen. Das ist bei allen Konflikten zwischen Teilen der Bourgeoisie der Fall. Jede Verschiebung in den sozialen Machtverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft, jede Veränderung der politischen Verhältnisse des Landes beeinflußt in erster Linie die Lage der Arbeiterklasse. Gegenüber dem, was innerhalb der Bourgeoisie geschieht, könnten wir uns nur dann wie unbeteiligte Zuschauer verhalten, wenn der Sozialismus außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft realisiert werden könnte, beispielsweise durch die Gründung einer eigenständigen Kolonie in jedem Lande. Aber da wir nicht davon träumen, von der bürgerlichen in die sozialistische Gesellschaft sozusagen zu emigrieren, sondern im Gegenteil daran denken, die bürgerliche Gesellschaft mit den Mitteln, die in ihr selbst geschaffen werden, zu vernichten, muß das Proletariat auf seinem Siegesmarsch bemüht sein, alle gesellschaftlichen Ereignisse in einem ihm vorteilhaften Sinne zu beeinflussen. Es muß bestrebt sein, eine Macht zu werden, die bei allen politischen Ereignissen der bürgerlichen Gesellschaft immer stärker ins Gewicht fällt. Das Klassenkampfprinzip verbietet nicht nur nicht, sondern gebietet im Gegenteil das aktive Eingreifen des Proletariats in alle politischen und sozialen Konflikte von Bedeutung innerhalb der Bourgeoisie.

Was speziell die Dreyfus-Affäre[2] betrifft, so bedarf das Eingreifen des Proletariats weder vom allgemeinen Gesichtspunkt über bürgerliche Streitereien noch vom Gesichtspunkt der Interessen der Menschlichkeit in der Gesellschaft einer Rechtfertigung. Denn im Fall Dreyfus offenbaren sich vier gesellschaftliche Faktoren, die ihm

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[1] Nach Ausbruch der Krise in der sozialistischen Bewegung in Frankreich im Juli 1899 hatte der Chefredakteur von „La Petite République“, Léon-Alfred Gérault-Richard, im Einverständnis mit Jean Jaurès in einem Rundschreiben bekannte Vertreter der europäischen sozialistischen Parteien gebeten, sich zu folgenden Fragen zu äußern: 1. Darf das sozialistische Proletariat unbeschadet des Klassenkampfprinzips bei Konflikten verschiedener Gruppierungen der Bourgeoisie Partei ergreifen, um die politische Freiheit, und, wie in der Dreyfus-Affäre, die Menschlichkeit zu verteidigen? 2. In welchem Maße darf das Proletariat an der bürgerlichen Gewalt teilnehmen, und steht das Prinzip des Klassenkampfes absolut und in allen Fällen der teilweisen Machtergreifung der Ministergewalt durch die sozialistische Partei entgegen? – In der deutschen Sozialdemokratie wandte man sich an August Bebel, Eduard Bernstein, Karl Kautsky, Wilhelm Liebknecht, Rosa Luxemburg, Alexander L. Helphand (Parvus), Max Schippel, Bruno Schoenlank, Paul Singer, Georg von Vollmar und Clara Zetkin. Siehe GB, Bd. 1, S. 359 und 380.

[2] Der französische Generalstabsoffizier jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus war 1894 wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Proteste fortschrittlicher Kreise erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens im August 1899. Dreyfus wurde erneut verurteilt, jedoch im September 1899 begnadigt. Er mußte 1906 rehabilitiert werden, als sich die Anklage als Fälschung erwiesen hatte. Die Dreyfus-Affäre führte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Republikanern und Monarchisten und brachte Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges. Innerhalb der Arbeiterbewegung traten im wesentlichen die Sozialisten um Jaurès für eine aktive Beteiligung am Kampf gegen die großbürgerliche chauvinistische Reaktion auf, während die Guesdisten in einem Aufruf vom Juli 1898 das Proletariat aufforderten, sich aus dieser Auseinandersetzung herauszuhalten, weil sie die Meinung vertraten, die Dreyfus-Affäre ginge die Arbeiterklasse nichts an.