Rosa Luxemburg Werke [RLW], Berlin 1970ff., Bd. 6, 1. Auflage, Karl Dietz Verlag Berlin 2014, S. 616

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Die Geburt der Freiheit im Zarenreich

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Beruhigende „Kommuniqués“ – mit gleichzeitiger Verhängung des Belagerungszustandes, Amnestie für politische Verbrecher – unter Ausschluß der Kämpfer der ganzen Revolutionsperiode, Dekrete über Pressefreiheit – und Niedermetzelung friedlicher Bürger, „unerschütterliche Grundsätze“ des Verfassungsmanifestes[2] – und ein allgemeiner Ausbruch von Judenkrawallen, so sieht der zaristische „Rechtsstaat“, das Reich der „Freiheit gebenden“ Knute in diesem Augenblick aus.

Und doch ist das groteske Schauspiel nur eine logische Äußerung des inneren Widerspruchs der Lage: Der Absolutismus kann sich noch mit Not für einige Momente an der Oberfläche halten, nur indem er freiheitliche Zusagen und Konzessionen macht. Aber diese Konzessionen bedeuten seine Selbstverneinung, seine Rettungsmittel sind für ihn ebenso viele Vernichtungsmittel. Deshalb bleibt es bei den bloßen Zusagen, und weil diese naturgemäß statt zu beruhigen, die Revolution immer nur von neuem anfachen, folgen den freiheitlichen Zusagen mit tödlicher Sicherheit Rückfälle in das nackte Schreckensregiment der Knute auf dem Fuße.

Und doch mitten in diesem Wirrwarr des Zusammenbruchs des Zarismus wird bereits in Rußland die politische Freiheit tatsächlich geboren, sie wächst mit jeder Stunde. Nicht „gewährt“ durch den Absolutismus, sondern betätigt durch die Arbeiterschaft unter der Führung der Sozialdemokratie. Die Massenversammlungen in den Straßen aller Großstädte sind zur täglichen Erscheinung geworden. Die Blätter werden in einigen Städten, so in Warschau, bereits ohne Zensur herausgegeben, von der sie sich einfach auf eigene Faust befreit haben. Die Gefangenen werden durch einen Sturm der Volksmasse befreit. Es ist die städtische klassenbewußte Arbeiterschaft, die so durch ihre Entschlossenheit die politische Freiheit Schritt für Schritt gewaltsam durchsetzt. Man muß durch das bunte Bild der widerspruchsvollen Nachrichten, durch die Details hindurch in den Sinn der einzelnen Augenblicke, der Phasen der Revolution eindringen – und jetzt werden die Phasen in Rußland nach Tagen und Stunden bemessen, um die innere Logik, die Entwicklung der Ereignisse zu erfassen. Die Revolution in Rußland siegt als eine Bewegung der modernen großstädtischen Arbeiterschaft – dies bewährt sich nicht

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[1] Dieser Artikel erschien in der von Rosa Luxemburg im „Vorwärts“ gestalteten Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Der Artikel ist nicht gezeichnet, Rosa Luxemburg ist aber gewiß der Autor. Es entsprach den Vereinbarungen mit dem Parteivorstand vom 23. Oktober 1905, über die sie an Leo Jogiches am 24./25. Oktober 1905 schrieb: „Wie Du siehst, müssen wir schon damit rechnen, daß ich ab 1. XI. diese zwei Leitartikel für den ‚Vorwärts‘ auf dem Halse habe, aber bestimmt noch weit mehr, denn K. K. [Karl Kautsky] fordert z. B., daß ich, wenn auch nur von zu Hause aus (durch Notizen), den russischen Teil leite, also wird es ziemlich viel Arbeit geben!“ GB, Bd. 2, S. 215. Kautsky wurde in seiner Ansicht in einem Brief von August Bebel vom 26. Oktober 1905 bestärkt. Siehe August Bebels Briefwechsel mit Karl Kautsky, Assen 1971, S. 172 f. Rosa Luxemburg avancierte zur leitenden politischen Redakteurin, d. h. zur Chefredakteurin des „Vorwärts“, und gestaltete ab Ende Oktober die Rubrik „Die Revolution in Rußland“. Am 1. November 1905 teilte sie Leo Jogiches mit: „Ich bin nämlich seit gestern täglich im ‚Vorwärts‘ beschäftigt, und zwar schon ab 4 Uhr nachmittags. Es erweist sich – der Karren steckt im Dreck, und ich muß energisch helfen. Gestern schrieb ich dort an Ort und Stelle den Leitartikel und habe alle Telegramme über Rußland bearbeitet. Heute gehe ich wieder den Leitartikel schreiben und Rußland.“ Über das Honorar habe „der Vorstand beschlossen: 20 M für Leitartikel und 5 M täglich für Rußland, kurze Notizen 10 Pf je Zeile“. Das ergäbe etwa 350 M im Monat. GB, Bd. 2, S. 228 und 235. Er ist auch in der RL-Bibliographie von Feliks Tych, 1962 (Jadwiga Kaczanowska przy konsultacji i wspólprácy Feliksa Tycha: Bibliografia Pierwodruków Rózy Luksemburg. Nadbitka Z pola walki, kwartalnik Poswiecony Dziejom Ruchu Robotniczego, Warschau 1962 Nr. 3 [19]), unter Nr. 364 verzeichnet.

[2] Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest des Zaren vom (17.) 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben.